© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Darwins Zweifel und die Frage nach der Erlösung
Gottes Wege sind unendlich
Claus Folger

Der Naturforscher und studierte Theologe Charles Darwin leugnete nie die Existenz Gottes. Er lehnte es aber ab, daß das Alte Testament ihm die Gefühle eines „rachedurstigen Tyrannen“ zuschrieb. Auch am Neuen Testament zweifelte er. In seiner Autobiographie „Mein Leben“ heißt es: „Ich kann es kaum begreifen, wie jemand, wer es auch sei, wünschen könnte, die christliche Lehre möge wahr sein; denn wenn es so ist, dann zeigt der einfache Text [das Evangelium], daß die Ungläubigen, und ich müßte zu ihnen meinen Vater, meinen Bruder und nahezu alle meine besten Freunde zählen, ewige Strafen verbüßen müssen. Das ist eine abscheuliche Lehre.“

Ist die Frohe Botschaft also in Wirklichkeit eine abscheuliche Lehre? Ein Streifzug durch die christliche Welt fängt ganz unterschiedliche Stimmen ein, er versucht dabei ein getreues Bild dieser manchmal abgründigen Welt zu zeichnen:

Der menschenfreundliche und gerne ein Zigarettchen rauchende Pfarrer Hans Reiner Haberstock von der Evangelischen Luthergemeinde Frankfurt am Main bleibt bei sich und äußerte dem Verfasser gegenüber folgendes: „Darwin hat sich nicht wirklich mit der biblischen Botschaft beschäftigt, sonst könnte er die Botschaft der Bibel nicht als Strafandrohung zusammenfassen. Die Bibel bewahrt die Lebens- und Glaubenszeugnisse von Menschen, die im Ringen mit zum Teil sehr schwierigen Herausforderungen auch ins Ringen mit Gott kommen, aber trotz allem daran festhalten, daß Gott Halt ist, der mich nicht fallen läßt. Der Dichter Arno Pötzsch hat ein Gedicht geschrieben, das für mich treffend die Botschaft der Bibel zusammenfaßt: ‘Du kannst nicht tiefer fallen, als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt. Es münden alle Pfade durch Schicksal, Schuld und Tod, doch ein in Gottes Gnade trotz aller unsrer Not.’“

Pater Georg Fischer von den Ordenswerken des Deutschen Ordens gibt dagegen nichts auf seine gute Menschenbehandlung als Seelsorger. Er antwortet auf anspruchsvolle und ausführliche Weise dogmatisch. Ein Auszug: „In seiner Aussage rührt Darwin an ein schwieriges, vielleicht das schwierigste Thema des christlichen Glaubens, das in der Frage mündet, wie ein guter Gott eine ewige, inhaltlich wie zeitlich unbegrenzte Strafe gegenüber einem begrenzten Geschöpf verhängen, ja auch nur zulassen kann. Folgen wir den literarischen und künstlerischen Darstellungen der Höllenstrafen von Dante bis Bosch, dann sehen wir: ausmalende Deutungen der unvorstellbar schrecklichen Realität des vollständigen und unwiderruflichen Scheiterns eines Menschen. Es ist der Sturz in dunkle, kalte Einsamkeit in aktiver wie passiver Lieblosigkeit, begleitet von dem verzweifelten Wissen, daß es auch unendlich anders, unendlich besser hätte werden können.“

Obwohl Jesus in der Bergpredigt – dem Herzstück des christlichen Glaubens, weil es das zukünftige Zusammenleben der Menschen regelt – kategorisch mahnt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden“, sieht sich Pater Fischer unerschütterlich im Reich des Guten. So führt der Ordenspriester weiter aus: „Ich persönlich glaube mit der Kirche, daß die ewige Hölle existiert. Gott ist sowohl unendlich barmherzig wie unendlich gerecht. In seiner Barmherzigkeit wird er jedem Menschen gerecht, der das erntet, was er gesät hat, wie Paulus sagt (Gal 6,7). Gott ist der letzte Richter, was nicht nur heißt, daß er dem Menschen seinen Lohn zuteilt, sondern auch und vor allem, daß er berichtigt, ausrichtet, aufrichtet, den Entrechteten zum Recht verhilft – und damit auch dem Rechtsbrecher. Ein Gott, der unterschiedslos über das Geschehene hinwegginge, würde nicht richtigstellen, wäre nicht gerecht und auch nicht barmherzig.“

Ist nur derjenige rechtgläubig, der gedankliche Engführungen akzeptiert, die Humanisten abstoßen? Die christliche Ethik ist kein Schema für ein kodifiziertes Verhalten, sondern eine situationsbedingte Ethik, in der nichts vorgeschrieben ist außer Liebe.

Seit über 60 Jahren missioniert die sich am Vorbild neutestamentlicher Gemeinden orientierte Barmer Zeltmission in Deutschland, „um den Menschen von der Liebe des Herrn Jesus zu erzählen.“ Nichtsdestotrotz fokussiert ihr Evangelist Karl-Ernst Höfflin die Erzählung vom Sündenfall im Paradies, die er unreflektiert als historische Tatsache übernimmt. Sein geschlossenes Erklärungsmodell für die Welt lautet, einen völlig berechenbaren, durchsichtigen und damit letztlich belanglosen Gott voraussetzend:

„Die Sünde kam durch einen Menschen in die Welt, als Folge davon kam der Tod, und der Tod ergriff alle, weil sie sündigten. Gott sagt uns in der Bibel, daß es nur zwei Ziele für uns Menschen gibt. Entweder werden wir die Ewigkeit in der Hölle verbringen. Dahin kommen wir, wenn wir auf dem Gleis bleiben, auf das jeder Mensch von Geburt an gestellt ist. Wenn wir jedoch die von Gott angebotene Weiche nehmen und zu ihm abbiegen, werden wir die Ewigkeit bei ihm verleben. Wenn ich an Gott glaube, ihm meine Schuld bekenne und mit ihm in einer Beziehung lebe, dann hat Gott meine Weichen tatsächlich bereits gestellt – das Ziel ist klar! Gottes ewige Herrlichkeit ist das Ziel.“

Nur wer die barbarische, jeden zivilisatorischen Standard unterlaufende Vorstellung pflegt, daß Gott die Schuld von Adam auf alle Nachkommen Adams anrechnet, predigt so. Aber was macht den Theologen so sicher, daß als Beispiel auch Franz Beckenbauer anstelle von Adam in den Apfel gebissen hätte? Und wenn Franz Beckenbauer damals tatsächlich den Apfel von Eva verschmäht hätte, würde dann heute niemand in der Hölle schmoren?

Ist nur derjenige rechtgläubig, der gedankliche Engführungen akzeptiert, die Humanisten abstoßen? Dabei gibt es auch alternative Bibelstellen. Ein Beispiel aus 1. Johannes 4, 8-9: „Geliebte, laßt uns einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe.“ Oder bei Augustinus: „Liebe, und was du dann tun willst, das tue.“ Was zum einen darauf hinweist, daß der personale Gott kaum im religiösen Sich-Abwenden von der Welt zu erfahren ist, sondern vielmehr in schöpferischen zwischenmenschlichen Beziehungen. Und zum anderen den Raum dafür öffnet, daß die christliche Ethik kein Schema für ein kodifiziertes Verhalten ist, sondern eine situationsbedingte Ethik, in der nichts vorgeschrieben ist außer Liebe.

So wandte sich Jesus in der Bergpredigt von der Lehrmeinung der jüdischen Gesetzeslehrer ab und stellte mit der „Goldenen Regel“ den Menschen in den Mittelpunkt. Matthäus 7,12: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut auch ihnen! Das ist das Gesetz und die Propheten.“

„Den Dialog von Glauben und Leben, Wissenschaft und Praxis, Denken und Fühlen, von christlichem Bekenntnis und jüdischer beziehungsweise islamischer Tradition bereichern“ möchte Katrin Brockmöller, die geschäftsführende Direktorin des Katholischen Bibelwerks. In einer Sonntagslesung trägt sie vor zu Römer 11, 32 „Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen“:

„Im Folgenden wird mit den Begriffen ‘Ungehorsam’ und ‘Erbarmen finden’ ein ganzer Reigen von Konsequenzen und damit Schritten im göttlichen Heilsplan aufgedeckt. Der Ungehorsam Gott gegenüber (= Unglaube) führt in jedem Fall dazu, daß Gott sich erbarmt. Interessanterweise argumentiert hier Paulus immer mit dem Erbarmen Gottes als Konsequenz auf den Unglauben. Es geht keineswegs um eine Strafe! Ja, der jeweilige Unglaube der Heiden, des jüdischen Volkes, letztlich aller Menschen, führt mit Paulus genau dahin, daß Gott mit Erbarmen eingreift. Was für eine schöne Theologie!

Gerade da, wo wir nicht glauben können oder wollen, darin bemüht sich Gott um uns und bringt uns sein Erbarmen, seine Leidenschaft, seine Liebe und sein ganzes Mitgefühl entgegen. Und es gibt keinen Unterschied zwischen Juden und Christen in der Glaubenskraft. Alle sind ungehorsam, deshalb benötigen alle Gottes Erbarmen.“

Schneller mit gewissen Einsichten war Papst Pius XI., der Papst zwischen den Weltkriegen. Historische Bedeutung erlangte seine Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937, die den Vernichtungskampf des NS-Regimes gegen die katholische Kirche in Deutschland anprangerte. Nur wenigen bekannt ist dagegen seine letzte Äußerung bei einer Pilgeraudienz: „Der Antisemitismus ist unannehmbar, spirituell sind wir alle Semiten.“ Völlig unbekannt ist, was er zu Anfang seines Pontifikats zu Kardinal Facchinetti sagte, nachdem er ihn zum Apostolischen Delegaten für Libyen ernannt hatte: „Glauben Sie nicht, daß Sie zu den Ungläubigen reisen. Muslime erlangen das Seelenheil. Gottes Wege sind unendlich.“

Ohne eine hermeneutische Arbeit an und mit der Heiligen Schrift verbietet sich allerdings eine buchreligiöse Herangehensweise an das Christentum, weil dadurch auch das Buch als Buch wichtiger genommen würde als das darin enthaltene Zeugnis von Gott.

Nur zwei Optionen kennt der binär schematisiert denkende Großevangelist und Afrikamissionar Reinhard Bonnke. In seiner Biographie „Im Feuer Gottes“ (Gießen 2016) liest man: „Das erste Zelt wurde gekauft und für Veranstaltungen aufgebaut. Kurz danach riß der afrikanische Sturm das Zelt in Fetzen. Reinhard fehlte Geld für die Miete – und als er den Vater im Himmel um 30 Rand bat, hörte er die Stimme des Heiligen Geistes in seinem Herzen: ‘Du bittest mich um 30 Rand, warum bittest du mich nicht um eine Million?’ Reinhards Antwort darauf: ‘Nein, Herr, ich bitte dich nicht um eine Million Rand – ich bitte um eine Million Seelen! Eine Million Seelen weniger in der Hölle und mehr im Himmel, das soll der Sinn meines Lebens und Dienstes sein.’ Der Heilige Geist antwortete. ‘Du wirst die Hölle plündern und den Himmel bevölkern – um Golgathas willen.’“

Abgesehen davon, daß jede Theologie abschreckt, aus der endzeitliche Schlachten um Menschenseelen abgeleitet werden können, ist der Heilige Geist kaum ein Mähdrescher. Statt dessen ruft er „Abba, lieber Vater“. Da Johannes für ihn das griechische Wort „Paraklet“ benutzte, das man mit Helfer, Ratgeber, Beistand, Tröster und Fürsprecher übersetzen kann.

Der nicht wie ein Großwildjäger, sondern grundsätzlich klug durchdacht predigende Vorsitzende der Christusgemeinde Frankfurt, Martin Schneider, findet schließlich eine konsensfähige Antwort auf Charles Darwins Ausgangsthese: „Ich glaube, daß Gott der Schöpfer aller Dinge ist, daher halte ich Röm 14,12 für maßgeblich: ‘Also wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft ablegen.’“

Am Ende des kleinen Reigens an christlichen Stimmen ist Charles Darwins scharfe Einlassung jedoch berechtigt. Kritisch ist, daß die Lehre der katholischen Machtkirche die sowohl in der Gattung als auch in der Beschreibung menschlichen Lebens vielfältigen Texte der Bibel seit dem Mittelalter bis heute mit unterschiedlicher Intensität auf die Hölle für die Gottfernen zulaufen läßt. Evangelische Freikirchler, die sich normalerweise in positiver Abgrenzung zu den Alleinseligmachenden organisieren, funktionieren bei den letzten Fragen allerdings genauso.

Unterhält man sich mit diesen „wiedergeborenen“ Christen, die vorgeben, Jesus zu erleben, dann leiten sie in aller Regel statisch aus der Schrift ab, warum Gott am Ende der Zeiten für die anderen nur die Hölle als Existenzform bestimmen kann, meistens verbunden mit der undurchdachten Phrase, daß „Gott“ schon wisse, was er tue. Jesus als den menschlichsten aller Menschen klammern sie bei dieser brisanten Angelegenheit besser aus, als ob sein Leben keine Auskunft Gottes über sich selbst wäre. Ohne eine hermeneutische Arbeit an und mit der Heiligen Schrift verbietet sich allerdings eine buchreligiöse Herangehensweise an das Christentum, weil dadurch auch das Buch als Buch wichtiger genommen würde als das darin enthaltene Zeugnis von Gott, der sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament souverän außerhalb menschlicher Konventionen denkt und handelt.

Nur um sich am Ende von selbstgerechten Christen auf ausgewählte Verse zwischen zwei Buchdeckeln reduzieren zu lassen? Sind Gottes Gedanken nicht zahlreicher als der Sand am Meer (Psalm 139,18)? Brachte das Leben Jesu von Nazareth nicht die Ordnung von oben und unten, arm und reich, Freund und Feind durcheinander, in der sich die Menschen eingerichtet haben und immer wieder einrichten?






Claus Folger, Jahrgang 1966, ist Industriekaufmann. Heute arbeitet er unter anderem für die Hochschule Fresenius als Deutsch-als-Fremdsprache-Trainer. Zudem engagiert er sich seit drei Jahren als Mitglied der Bürger für Frankfurt BFF. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über häusliche Gewalt von Frauen gegen ihre Partner („Das Schweigen der Männer“, JF 20/20).

Foto: Sünder werden in die Hölle geworfen, die Guten gehen zum Himmel ein (Wandmalerei in einer Pfarrei im schwedischen Dalarna, um 1800): Bei allem zweifelnden Ringen mit Gott – Jesu Leben und Tod ist eine Auskunft Gottes über sich selbst