© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Letzte Tage des kranken Mannes am Bosporus
Der in Oxford lehrende US-amerikanische Historiker Eugene Rogan hat ein beeindruckendes Werk über den Untergang des Osmanischen Reiches vorgelegt
Werner Lehfeldt

Eugene Rogan, bestens ausgewiesener Kenner des Nahen und des Mittleren Ostens, behandelt in seinem aktuellen Buch die Teilnahme des Osmanischen Reiches am Ersten Weltkrieg an der Seite der Mittelmächte. Es geht in dem Werk des Direktors des Oxforder „Middle East Centre St. Antony’s“ aber nicht nur um ein vergangenes Geschehen, vielmehr liegt sein besonderer Wert darin, daß es die bis heute reichenden Auswirkungen des Verlaufs und der Beendigung dieses Konflikts für den Nahen Osten aufzeigt. 

Um verständlich zu machen, daß die Osmanen überhaupt in den 1914 ausgebrochenen Krieg eintraten und daß sie dabei auf die Mittelmächte setzten, beschreibt der Autor im Eingangskapitel die seit der jungtürkischen Revolution vom Osmanischen Reich seit 1908. Gegen ausländische Mächte geführte Kriege und die in diesem Zeitraum durchlebten inneren Unruhen führten zu einem Notstand, der als existentielle Bedrohung der Existenz des Reiches wahrgenommen wurde, wobei in den Augen der Machthaber Rußland mit seinen Ansprüchen auf Gebiete in Ostanatolien, die Meerengen und die Hauptstadt die größte Bedrohung ausmachte. 

Um nicht den Status als Großmacht zu verlieren, um überhaupt die Existenz des Reiches zu sichern, waren die Osmanen auf eine ihnen freundlich gesinnte Großmacht angewiesen, mit der sie ein Defensivbündnis eingehen könnten. Dabei war über einen längeren Zeitraum keineswegs ausgemacht, auf die Seite welcher der europäischen Großmächte diese Suche führen würde. Bei Kriegsausbruch, als die Notwendigkeit eines Defensivbündnisses immer dringlicher wurde, zeigte sich dann, daß das eng mit Rußland verbündete Frankreich nicht bereit war, ein solches Bündnis einzugehen, und daß auch eine britisch-osmanische Verständigung unmöglich war. 

Und so kam erst Ende Juli 1914 ein zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich abgeschlossenes geheimes Verteidigungsbündnis zustande, bei dem das Deutsche Reich vorgab, die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches gegen russische Ansprüche verteidigen zu wollen. Der Abschluß dieses Bündnisses hatte nicht den sofortigen Eintritt der Osmanen in den Krieg zur Folge. Erst Ende Oktober 1914 gelang es den Deutschen, ihre Verbündeten zur Aufgabe ihres Zögerns und zum Angriff auf Rußland zu zwingen, woraufhin Großbritannien und Frankreich der Hohen Pforte den Krieg erklärten. Am 14. November rief der Sultan den Dschihad, den Heiligen Krieg, aus, um seine muslischen Untertanen für den Krieg zu mobilisieren. 

Konflikte mit den Armeniern gipfelten im Völkermord

Den umfangreichsten Teil des Buches macht die Beschreibung des Kriegsgeschehens aus. Das osmanische Militär bewies in diesem Geschehen ein bemerkenswertes Durchhaltevermögen und entkräftete damit viele Prognosen, die nach der jüngsten Niederlage im Balkankrieg vor 1914 die Kriegsfähigkeit des Osmanischen Reiches grundsätzlich in Frage gestellt hatten. Dennoch erlitten zu Beginn des Krieges die Osmanen zwischen November 1914 und Januar 1915 in Aden, im Golf von Alexandrette und bei Sarıkamış auch eine Reihe von Niederlagen. Angesichts des Scheiterns des gegen die Russen geführten Feldzugs, in dessen Folge es Ende 1914, Anfang 1915 zur Auflösung der 3. Armee kam, und angesichts auch der aufziehenden Bedrohung der Meerengen durch die westlichen Alliierten verbreitete sich in der Führung des Reiches die Überzeugung, daß insbesondere von den Armeniern eine große Gefahr für das Reich ausgehe. 

Deshalb begann die Regierung damit, extreme Maßnahmen ins Auge zu fassen, um der nach ihrer Meinung von den nationalen Bestrebungen der Armenier ausgehenden Bedrohung des osmanischen Territoriums zu begegnen. Das, was als Deportierung zunächst der in sechs Provinzen Ostanatoliens lebenden Armenier begann, mündete in den Beschluß zur Vernichtung des Großteils der osmanischen Armenier. Die gezielte, staatlich angeordnete und organisierte Genozid der osmanischen Armenier – nach Schätzungen armenischer Historiker zwischen einer und 1,5 Millionen Menschen – war der erste Völkermord der Moderne. Die beklemmende Beschreibung dieser Katastrophe verbindet der Autor mit einer Beschreibung der gegen andere Bevölkerungsgruppen, vor allem Griechen und assyrische Christen, gerichteten Deportations- und Vernichtungspolitik.

Im Frühjahr 1915 gelang es den Osmanen, den alliierten Angriff auf die Dardanellen zurückzuschlagen. Als noch spektakulärer erwies sich der osmanische Triumph auf Gallipoli, der Ende Dezember 1915 mit dem vollständigen Abzug der britischen Streitkräfte besiegelt wurde und für die von Großbritannien geführten Übersee-Truppen aus Australien und Neuseeland, die dort die Kontrolle über Istanbul und den Bosporus gewinnen wollten, eine vollständige Niederlage bedeutete.

Der Autor verknüpft die Beschreibung der militärischen Ereignisse als solcher fortlaufend mit einer Erörterung der politischen Folgen dieser Ereignisse sowohl für die Osmanen selbst wie insbesondere für die am Krieg beteiligten Großmächte, die dieses Geschehen immer und hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der militärischen Entwicklung in Europa beurteilten und gestalteten. Hierbei zeigt sich immer wieder, wie wenig die Interessen der gegen Deutschland und dessen Verbündete kämpfenden Großmächte untereinander harmonierten. 

Als es den westlichen Alliierten nicht gelang, beim Vormarsch auf Istanbul das Marmarameer zu erreichen, fühlte sich Rußland nicht mehr zu einem Unterstützungsangriff auf den Bosporus verpflichtet und tat kaum noch etwas, um die Westmächte in den Dardanellen zu entlasten. Bei der Erörterung des militärischen Geschehens in Mesopotamien, das sich über längere Zeit für die Osmanen günstig gestaltete, sowie der Entfesselung und des Verlaufs des arabischen Aufstands gegen die Regierung des Sultans werden einerseits die Gegensätze zwischen Briten und Franzosen in der Frage der Aufteilung der Gebiete deutlich, die das Osmanische Reich verlieren sollte. Andererseits macht es auch das Doppelspiel der Briten gegenüber den Haschemiten deutlich, die sie zum Aufstand gegen die Osmanen veranlassen wollten. So gaben die britischen Militärs mit Rückhalt der Regierung in London dem Scherifen Hussein und dessen Sohn Faisal die Aussicht auf Gründung eines unabhängigen arabischen Staates, während sie in Wirklichkeit nach Ausweitung ihrer eigenen Herrschaftsansprüche strebten. Denn im fast gleichzeitig vorbereiteten und am 16. Mai 1916 abgeschlossenen geheimen Sykes-Picot-Abkommen hatten Briten und Franzosen ihre kolonialen Einflußsphären in Mesopotamien festgelegt.

Niederlage war seit 1917 nicht mehr aufzuhalten

Der Verlauf der beiden Revolutionen in Rußland 1917 verschaffte der Führung in Istanbul noch einmal eine Atempause. Es gelang sogar, an Rußland verlorengegangene Gebiete an der östlichen Schwarzmeerküste zurückzuerobern und Gebiete im Kaukasus unter osmanische Kontrolle zu bringen. An anderen Fronten entwickelte sich die Situation hingegen kritisch, als britische Truppen, von arabischen Stämmen unterstützt, den Gegner sukzessive aus Arabien, Palästina und Mesopotamien verdrängten und nacheinander Bagdad, Jerusalem sowie schließlich Damaskus und Aleppo verlorengingen. 

Ende 1917 waren die Osmanen zwar noch nicht geschlagen, aber es war klargeworden, daß es jetzt nicht mehr um einen Sieg, sondern nur noch um das Überleben ging. Nach dem Rücktritt des jungtürkischen Kabinetts am 8. Oktober 1918 wurde eine neue Regierung gebildet, deren Abgesandte am 30. Oktober einen Waffenstillstand unterzeichneten. Die Osmanen mußten die Meerengen für die alliierte Flotte freigeben, sämtliche Kriegsschiffe ausliefern, und die gesamte Armee war sofort zu demobilisieren. 

Nach langwierigen Verhandlungen wurde am 10. August 1920 der Friedensvertrag von Sèvres unterzeichnet, der das Osmanische Reiche auf jene Teile (Zentral-)Anatoliens reduzierte, auf die sonst keine Macht Anspruch erhob. Dadurch, daß sich die Regierung diesen Bedingungen unterwarf, rief sie den Widerstand der von Mustafa Kemal ins Leben gerufenen Türkischen Nationalbewegung hervor, die alles unternahm, um diese Friedensregelung und die für sie verantwortliche Regierung zu Fall zu bringen. 

Der sich hieraus entwickelnde Krieg führte bis 1922 zu einem vollständigen Sieg über alle fremden Armeen in Anatolien und zur Abschaffung des osmanischen Sultanats. Im Juli 1923 wurde in Lausanne ein neuer Friedensvertrag unterzeichnet. Die Anerkennung der unabhängigen Türkei innerhalb ihrer noch heute im großen und ganzen bestehenden Grenzen war allerdings mit einem „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei verbunden, der für 1,2 Millionen Griechen und über 400.000 Muslime die Vertreibung aus ihrer Heimat in Kleinasien bzw. auf dem Balkan bedeutete. Am 29. Oktober wurde schließlich die Türkische Republik ausgerufen.

Im Schlußkapitel seines beeindruckenden Werks geht der Autor auf die bis in die Gegenwart reichenden Folgen des Untergangs des Osmanischen Reiches für den Nahen Osten ein. An die Stelle der Sultansherrschaft trat der europäische Imperialismus, der den meisten Staaten des Nahen Ostens ihre Grenzen und Herrschaftssysteme aufdrückte. 

Und nicht zuletzt hat ein anderes Vermächtnis des Krieges den Nahen Osten zu einem Kriegs- und Krisenherd werden lassen: Der arabisch-israelische Konflikt läßt sich in direkter Linie zu den fundamentalen Widersprüchen der Balfour-Deklaration vom November 1917 zurückverfolgen, in der die britische Regierung der zionistischen Bewegung versprach, die Gründung eines eigenen Staates der Juden, eines „Jewish National Home“ in Palästina zu unterstützen. Daß und wie sehr diese Einschätzung zutrifft, wird uns gerade in diesen Tagen und Wochen wieder einmal in bedrückender Weise vor Augen geführt.

Eugene Rogan: Der Untergang des Osmanischen Reiches. Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten 1914–1920. wbg Theiss Verlag, Stuttgart 2021, gebunden, 591 Seiten, Abbildungen, 38 Euro