© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Als zwischen Brenner und Salurn die Willkür herrschte
Der Historiker Helmut Golowitsch über die gewaltsamen Übergriffe von italienischen Besatzern in Südtirol nach Kriegsende 1945
Lukas Steinwandter

Geht es um die Südtiroler Zeitgeschichte, steht meistens der Freiheitskampf in den 1960er Jahren im Fokus. Bombenanschläge, Verhaftungswellen, Folter und Besetzung bargen Stoff für zahlreiche Filme und Bücher. Ein tiefer, dunkler Fleck verbirgt sich aber, blickt man einige Jahre vorher auf die Geschehnisse im südlichen, an Italien abgetrennten Teil Tirols. Dunkel nicht nur wegen der mangelnden Aufklärung darüber, sondern auch wegen der Ereignisse. Der Historiker Helmut Golowitsch hat nun Pionier- und Kärrnerarbeit gleichermaßen geleistet. „Repression – Wie Südtirol 1945/46 wieder unter das Joch gezwungen wurde“, lautet der Titel des neuen Werkes des Südtirol-Kenners.

Selbsternannte Partisanen raubten und mordeten

Kernstück des 540 Seiten starken, großzügig bebilderten und aufwendig gestalteten Buches inklusiver aufklappbarer Landkarte und Zeitleiste bildet die Dokumentation von mehr als 100 Übergriffen und Gewalttaten auf vorwiegend deutschsprachige Südtiroler von Mai 1945 bis Mai 1946 und die politischen Rahmenbedingungen. „Geradezu nachrichtendienstlich“ hatten Ortsgruppen der Südtiroler Volkspartei (SVP) zusammen mit dem Klerus südlich wie nördlich des Brenners Fälle von Drangsalierung bis Mord gesammelt und in die „Landesstelle für Südtirol“ über die Berge nach Innsbruck geschmuggelt – die regulären Grenzübergänge waren in der chaotischen Nachkriegszeit schließlich geschlossen.

An den Übergriffen waren neben Uniformträgern auch die sich als „antifaschistisch“ bezeichnenden Angehörigen des Befreiungskomitees „Comitato di Liberazione Nazionale“ beteiligt, die sich nach Kriegsende plötzlich „wundersam“ und schlagartig vermehrten. Diese gaben sich Zeitzeugen zufolge auch teilweise als „Partisanen“ aus, obwohl sie nie gekämpft hatten. Gepaart war ihr Auftreten mit einer antideutschen Einstellung, die pauschal alle deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerungsteile als Nationalsozialisten einsortierte, deren Eigentum man habhaft werden durfte. Mit den regulären Truppen kamen die Gauner und „Partisanen“ in jedes noch so entlegene Gebirgsdorf.

Es blieb aber nicht bei Raub, Schikane und Erniedrigung: im gesamten Land ereigneten sich teils ungesühnte Morde. Ein Opfer war Alois Mair, ein Vorarlberger, der während des Krieges als Zöllner in Taufers im Vinschgau im westlichen Südtirol Dienst getan hatte. Nachdem seine Braut am 1. Juli 1945 in Mals ein Kind gebar, kehrte er in ein Gasthaus ein. Ob und warum es zum Streit kam, ist nicht klar. Als gesichert gilt aber, daß ihm beim Verlassen des Lokals gegen Mitternacht mehrere italienische Soldaten auf den Fersen waren und ihn nach einer kurzen Verfolgung in einem Schweinestall anschossen. Zwei Tage darauf erlag er den schweren Verletzungen. 

Im nahgelegenen St. Valentin auf der Heide erwischte der Landwirt Josef Bernhard einen Soldaten des Regiments „San Marco“ beim Hühnerklau, wie aus einem Bericht der US-Botschaft in Rom vom 15. September desselben Jahres hervorgeht. Der Südtiroler rannte dem Mann im Soldatenrock hinterher, hielt ihn fest – und wurde mit zwei Messerstichen getötet.

Generationenübergreifende Wunden in Opferfamilien

Am anderen Ende Südtirols, in Toblach im Pustertal, drangsalierten Soldaten des „Folgore“-Verbands im Juli 1945 tagelang eine Familie, töteten einen Familienvater und verletzten seine Frau. Hintergrund war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Streit zwischen Soldaten und Einheimischen nach einer Feier zur Rückkehr von Wehrmachtssoldaten. Der Sohn des ermordeten Albin Kofler weigerte sich nach Schilderungen der Mutter, seine Freunde zu verraten, die sich mit den Welschen um eine Frau geprügelt hatten. Die alliierten Behörden in Südtirol meldeten im Sommer 1945 wiederholt Schandtaten von Folgore-Soldaten, bis diese im Herbst des Jahres nach und nach abgezogen und durch andere Regimenter ersetzt wurden.

Wie in dem Toblacher Fall hinterließen viele der geschilderten Taten generationenübergreifende Wunden bei den Familienangehörigen. Autor und Verlag werden mit dem auf mehrere Bände angelegten Werk nicht nur einen nachhaltigen Anteil an der Aufklärung dieses schicksalsschweren Kapitels Südtiroler Geschichte haben. Sie könnten auch Befriedung und Befriedigung für diejenigen sein, die bislang mit Zorn und quälender Ungewißheit auf das Jahr nach dem großen Krieg zurückblickten.  

Helmut Golowitsch: Repression. Wie Südtirol 1945/46 wieder unter das Joch gezwungen wurde. Effekt! Verlag, Neumarkt in Südtirol 2021, gebunden, 540 Seiten, Abbildungen, 28,90 Euro

Foto: Veteranen an der Spitze einer Bersaglieri-Formation demonstrieren mit einem Marsch durch Bozen ihre Macht: Es blieb nicht bei Raub, Schikane und Erniedrigung