© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Eine juristische Schmierenkomödie
Der Schweizer Völkerrechtler Nils Melzer zeichnet den Fall Julian Assange nach / Den an dessen Verfolgung beteiligten Staaten stellt er ein schlechtes Zeugnis aus
Filip Gaspar

Vor gut einem Monat, am 3. Mai, ließ es sich Außenminister Heiko Maas zum „Tag der Pressefreiheit“ nicht nehmen, die Bedeutung unabhängiger Medien für eine Demokratie zu betonen. So ein unabhängiges Medium ist allerdings auch die Plattform WikiLeaks von Julian Assange. Über diese wurden Kriegsverbrechen und Korruptionsfälle der Regierungen veröffentlicht. Doch statt die Schuldigen anzuklagen, stellt man den Überbringer der Nachricht an den Pranger, was der Schweizer Nils Melzer in seinem Buch detailliert offenbart. Melzer ist Professor für Völkerrecht und UN-Sonderberichterstatter für Folter. 

Melzer beschreibt, wie systematisch versucht wurde, den Wiki-Leaks-Gründer zum Schweigen zu bringen. Begonnen hatte es mit den Vorwürfen zweier von Assanges Liebschaften in Schweden. Diese warfen ihm vor, bei einem der einvernehmlichen Geschlechtsakte das Kondom abgestreift zu haben. Um ihn zu einem HIV-Test zu zwingen, wendeten sie sich an die Polizei. Diese machte daraus eine Anzeige wegen Vergewaltigung. Die schwedische Justiz gab Assange nicht die Möglichkeit, die Vorwürfe klarzustellen, obwohl er von Anfang an kooperierte und seinen Aufenthalt in Schweden sogar verlängerte. 

In den USA drohen Assange bis zu 175 Jahre Gefängnis

Der Autor gibt zu, anfänglich selbst ans Narrativ vom Vergewaltiger geglaubt zu haben, als sich das Anwalts-team von Assange bei ihm meldete. Erst nachdem Melzer in einem offiziellen Schreiben auf gravierende Verfahrensmängel aufmerksam gemacht hatte, wurde das Verfahren in Schweden im November 2019 eingestellt. Nach über neun Jahren wohlgemerkt!

Bis dahin hatte Assange eine Odyssee in der ecuadorianischen Botschaft in London hinter sich, in der er Asyl bekommen hatte. Nach einem Machtwechsel in Ecuador wollte die neue Regierung nicht nur eine bessere Beziehung zu den USA, sondern auch gleich den nun ungebetenen Gast loswerden. Die anfänglich wohlwollende Behandlung schlug in eine psychische und physische Folter um. Man kontrollierte Assanges Post, seine Telefonate und untersagte ihm die Internetnutzung ab. Auch wurde ihm jegliche Privatsphäre genommen. Besuche konnten nur noch unter strenger Bewachung stattfinden. 

Die USA, wo ihm bei einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft drohen, haben einen Auslieferungsantrag gestellt. Weder der Friedensnobelpreisträger Barack Obama noch sein Nachfolger Donald Trump und auch nicht der neu-gewählte US-Präsident Joe Biden sahen von einer Anklage gegen Assange ab. An Assange soll ein Exempel statuiert werden. Nachdem die involvierten Staaten Schweden, Großbritannien, USA und Ecuador aus Melzers Sicht nicht nur an keiner Aufklärung der Vorwürfe interessiert waren, sondern die menschenunwürdige Behandlung von Assange noch verstärkten, entschloß sich Melzer, sein Buch zu schreiben. Er hofft, damit zur Freilassung von Assange beizutragen. 

Mittlerweile hat dieser die ecuadorianische Botschaft verlassen und sitzt seit zwei Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh ein. Ein Londoner Gericht hat das Auslieferungsersuchen der USA vorerst abgelehnt, doch der sichtlich gezeichnete Assange wartet noch immer auf ein rechtskräftiges Urteil. Deutschland macht in der ganzen Sache keine gute Figur. Als Heiko Maas im Fall Nawalny starke Kritik an der russischen Regierung im Umgang mit dem russischen Oppositionspolitiker übte, konnte er sich bei derselben Regierungsbefragung auf Assange angesprochen zu keiner Kritik an den USA wegen möglicher Verstöße gegen internationales Recht aufraffen. Und das, obwohl Melzer zuvor persönlich im Auswärtigen Amt in Berlin die Verstöße erläutert hatte. 

Melzer zeigt nicht nur Assanges Entwicklung vom gefeierten Enthüllungsjournalisten zur Persona non grata nach, sondern auch, daß Schutz der Menschenrechte nicht immer funktioniert. Man muß sich bei der Lektüre ständig vor Augen halten, daß sich diese Geschehnisse nicht in irgendeiner Diktatur vollzogen haben, sondern vor unser aller Augen in westlichen Demokratien.

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung. Piper Verlag, München  2021, gebunden, 336 Seiten, 22 Euro