© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Urlaubsdoku 2.0
Youtuber nehmen die Zuschauer mit auf ferne Reisen und Abenteuer
Boris T. Kaiser

Lange waren bildstarke Reisereportagen die Domäne großer Fernsehsender. Nur sie waren in der Lage, die aufwendigen Produktionen finanziell und auch organisatorisch überhaupt zu stemmen. Der rasende Fortschritt in der Kamera- und Aufnahmetechnik und der Siegeszug der Internet-Videoportale erlaubt es aber inzwischen auch ganz normalen Menschen, das Publikum an den Bildschirmen zu Hause mit auf ihre Reisen zu nehmen – und das mit einem Bruchteil des Herstellungsaufwandes der TV-Dokus.

Auf Youtube finden sich zahlreiche junge Globetrotter, die auf ihren Kanälen einen individuellen Blick auf das Ausland präsentieren. Der Norweger Harald Baldr (2 Millionen Abonnenten) legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die Geschichte, die traditionelle Kultur und die Menschen der von ihm besuchten Länder. Manchmal erfordert das durchaus einigen Mut oder Abenteuerlust. Wenn er sich zum Beispiel im indischen Ahmedabad der Straßen-Rasur eines dort ansässigen klassischen Barbiers unterzieht oder für ein Video den „schlimmsten Slum von Mumbai“ aufsucht, um dort gemeinsam mit den einheimischen Bier zu trinken und sich ihre berührenden Geschichten anzuhören. Aber natürlich dürfen auch Tourismus-Klassiker wie der Besuch einer traditionellen Holzschuh-Fabrik in den Niederlanden oder der Genuß der zahlreichen kulinarischen Spezialitäten in Italien nicht fehlen.

Ein anderer Reise-Youtuber, der sich beziehungsweise seinem Kanal den Namen „bald and bankrupt“ („kahl und bankrott“) gegeben hat, stellt in seinen Videos, Nomen est omen, vorwiegend die Länder der ehemaligen Sowjetunion vor (2,9 Mio. Abonnenten). Der Brite hat gar eine eigene Abspiel-Liste mit Videos erstellt, in denen er „Soviet Hotel“ Rezensionen für Unterkünfte von Weißrußland bis Sibirien abgibt. Bei seiner Wortwahl ist der Youtuber von der Insel nicht gerade zimperlich. In einem seiner Videos spricht er beispielsweise von der Stadt Kyzyl als „Heimat von Kehlgesang und Mördern“, aber er redet auch über die großen Schlachten im Zweiten Weltkrieg auf russischem Boden und weist auf fast vergessene Denkmäler mitten im Nirgendwo hin. Seine Gesprächspartner, sei es eine Friseurin, ein alter Einsiedler oder der Fahrer einer spontanen Mitfahrgelegenheit, behandelt er selten von oben herab.

Nicht nur die schönen Ecken zeigen

Aber auch andere, ehemals oder aktuell noch sozialistisch geführte Staaten stehen auf der Reiseliste des glatzköpfigen „Pleitegeiers“ mit der handlichen Kompaktkamera. Auch in diesen zeigt er dem Publikum mitnichten nur die schönen und positiven Seiten dieser Länder. In Kuba dokumentiert der Videomacher die Auswirkungen der sozialistischen Wirtschaftspolitik und fragt seine Zuschauer: Könntet ihr in diesem Land leben? 

In Mexiko und Bolivien zieht das Sprachtalent selbstbewußt durch berüchtigte Stadtviertel. Den Blick des „weißen Mannes aus dem Westen“ auf seine Gastgeberländer mag der eine oder andere „PoC“-Flüsterer als respektlos empfinden; aber immerhin liefert er keine reine Propaganda-Show im Sinne der dortigen Machthaber ab. Das unterscheidet den Youtuber zumindest wohltuend von den zahlreichen in Dubai lebenden Influencern auf Instagram und Co., welche dieses Geschäft in für sie und ihre Auftraggeber sehr lukrativer Weise betreiben.

Dem US-Amerikaner Shiey (1,9 Mio. Abonnenten) geht es vor allem um seine persönliche Definition von Freiheit. In seinen „Illegal Freedom“-Clips nimmt sich der Youtuber so einige teilweise strafbare Freiheiten heraus. Mit Selfiestick bewaffnet, springt er auf Züge auf, um quer durch Europa zu fahren, besteigt Bauwerke – oft in schwindelerregender Höhe unter den erbosten Augen der Polizei – und treibt sich in stillgelegten Industriegebäuden und sogar Militäreinrichtungen herum. 

In Deutschland machte der Videofilmer Innenaufnahmen von einem verlassenen Hotel. Das Besondere daran: Die Unterkunft war noch komplett eingerichtet, inklusive einiger eingedeckter Tische im Frühstücksraum des Etablissement. Neben der Lust an der maximalen Freiheit geht es dem stets maskierten jungen Mann vor allem um das Ungewisse, das ständig Neue, den Umgang mit unerwarteten Situationen. Allein das macht ihn in einer Zeit, in der der Trend weltweit mehr und mehr zum Staat als oberstem Kindermädchen seiner Bürger geht, zu einer provokanten Reizfigur.