© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Der Flaneur
Verschwörung beim Bier
Paul Leonhard

Ganz schlecht. Jetzt ist es mir doch rausgerutscht, das die ganze Zeit mit Bedacht zurückgehaltene, eingesperrte, aber mir auf der Zunge liegende Wort. „Verschwörungstheorien“ habe ich gesagt. Noch dazu mit einem vorgesetzten „Deine“. 

Mein Gegenüber prallt zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Er schaut völlig fassungslos. Als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Dann atmet er tief durch. Das habe er von mir nicht erwartet, daß ich all diese klugen Argumente als „Verschwörungstheorien‘“ abtue.

Bisher habe er mich für einen belesenen, allseitig interessierten Menschen gehalten, liest er mir die Leviten. Jetzt sei er tief enttäuscht von mir. Das müsse er erst einmal verdauen. Er schüttelt den Kopf.

Die Kellnerin bricht 

das ernste Schweigen und stellt eine neue Runde Bier ab.

Es ist still geworden am Biertisch im Außenbereich. Minutenlange Stille. Der Oberschlesier grinst in sich rein. Der Hausmann schaut demonstrativ auf die Straße. Der Handwerksmeister lehnt sich zurück, streckt den Arm hoch und läßt die Hand einmal im Gelenk kreisen. Eine Runde für alle. Sie nickt.

Überzeug mich, sag ich zu meinem Gegenüber. Aber er habe mir doch alle Verlinkungen genannt, antwortet der und zückt sein Smartphone. Ich winke ab: „Ich will keine Echokammern, sondern die Argumente aus deinem Mund hören.“ Der andere schüttelt den Kopf. Das sei doch albern. Mit mir sei nicht zu reden.

Erneutes Schweigen, Grinsen, Auf-die-Straße-Blicken. Zum Glück erscheint die Kellnerin mit dem Bier. Sie knallt die vollen Gläser auf den Tisch. Wir stoßen an. Die Blicke des Oberschlesiers folgen den langen schlanken Beinen der jungen Frau. 

Der Handwerksmeister pfeift leise anerkennend durch die Zähne. „Ganz schön knapper Rock“, sagt mein Gegenüber. Und packt sein Smartphone in die Tasche. Ich atme auf. Endlich haben wir wieder Stammtischniveau erreicht.