© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Mahnen, warnen, klagen
Ostbeauftragter: Wanderwitz unterstellt Ostdeutschen Demokratiedefizite
Werner J. Patzelt

Nicht weniger als 40 Beauftragte oder Koordinatoren der Bundesregierung gibt es. Manche sind Minister, beamtete oder parlamentarische Staatssekretäre, sonstige hohe Ministerialbeamte. Andere sind Bundestagsabgeordnete oder einfach Frau X oder Herr Y. Sie kümmern sich um Migration oder Digitalisierung, um Abrüstung oder Menschenrechtspolitik, um Afrika oder die neuen Bundesländer.

Das Amt des für die letzteren zuständigen Bundesbeauftragten wurde von Bundeskanzler Schröder 1998 zu Beginn der rot-grünen Koalition geschaffen und dem Staatsminister im Bundeskanzleramt zugewiesen. So sollte gezeigt werden, daß sich die Bundesregierung nach den „ideenlosen Kohl-Jahren“ jetzt wirklich um die neuen Bundesländer kümmere. Später übernahmen parlamentarische Staatssekretäre dieses Amt, also jene Regierungsmitglieder, zu denen die beamteten Staatssekretäre spitz anzumerken pflegen, sie lösten jene Probleme, die es ohne sie gar nicht gäbe. 

Typisch ist für Bundesbeauftragte, daß sie entweder im Hintergrund wirken wie der Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes, daß sie eine Behörde leiten wie der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, oder daß sie immerhin Berichte vorlegen. Wirklichen Leistungsdruck haben nur wenige von ihnen. Öffentlich fallen sie nur auf, wenn in ihrem Zuständigkeitsbereich etwas schiefgeht, und sei es auch bloß die Verkündung einer womöglich amtsrelevanten Einsicht. 

So erging es dem seit 2020 amtierenden Ostbeauftragten Marco Wanderwitz (CDU). Der konnte vor über einer Woche anscheinend noch nicht ahnen, daß auch bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gerade die jüngeren Altersgruppen viel häufiger die AfD als die CDU wählen würden. Also widerfuhr es ihm, daß er unter den – natürlich allesamt rechtsradikalen – AfD-Wählern vor allem die von der SED-Diktatur fehlsozialisierte „Erlebnisgeneration“ der DDR vermutete. Prompt kam die Frage auf, ein wie guter Ostkenner der 1975 in Sachsen geborene Wanderwitz wäre, ob er für die Rolle des Ostbeauftragten tauge, und ob es dieses Amt wirklich brauche. Es leuchtet ein, wenn sich ein Bundesbeauftragter um Migration, Flüchtlinge und Integration zu kümmern hat. Plausibel ist auch die Tätigkeit des Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Doch kümmern sich um die neuen Bundesländer nicht deren Landesregierungen? Und um übergreifende Belange die Bundesministerien, etwa für Wirtschaft oder Verkehr? Oder beschafft der Ostbeauftragte vom Bundesfinanzminister Geld für Neufünfland? 

Tatsächlich koordiniert er „die deutsche Bundesregierung“ beim „Aufbau Ost“. Das betrifft alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen, mit denen die Lebensverhältnisse im Osten aufs westdeutsche Niveau angehoben werden sollen. Von den erreichten Fortschritten hat er im „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“ zu melden. Doch weil der Ostbeauftragte in der Regierung nicht wirklich viel zu sagen hat, kann er nur die Rolle des Chorsprechers in der griechischen Tragödie übernehmen: Er mahnt, warnt und klagt.

Nach 30 Jahren ging einst ein schlimmer, in Deutschland ausgetragener Krieg zu Ende. Seine Folgen sind noch heute zu bemerken – und nicht nur, weil es keinen Reichsbeauftragten für den Wiederaufbau gab. Genau 30 Jahre nach dem Wiederentstehen ostdeutscher Bundesländer übernahm Wanderwitz sein Amt. Wie lange werden er und seine Nachfolger wohl noch amtieren müssen, bis der Osten – falls überhaupt wünschenswert – in etwa so wäre wie der Westen? Vorhersagen läßt sich nur: Wo immer eine Regierung tätig wird, gibt es etwas zu koordinieren, zu berichten und so zu diskutieren, daß neue Regierungsmaßnahmen ergriffen werden. Eigentlich sollte man meinen, es kehre irgendwann jene Routine ein, dank welcher man das alles einer tüchtigen, politisch geführten Ministerialverwaltung überlassen kann. Immerhin haben wir auch keinen Beauftragten für die alten Bundesländer, obwohl der dortige Zustand öffentlicher Infrastruktur ein helfendes Tätigkeitwerden der Bundesregierung nahelegen könnte. Doch im Westen vertrauen wir den Landesregierungen.

Warum nicht auch im Osten? Da geht es zunächst einmal um Symbolik. Schaffte man den Ostbeauftragten ab, dann würde doch signalisiert: Jetzt ist Deutschlands innere Einheit verwirklicht! Doch wie ginge man anschließend um mit Hinweisen auf fortbestehende Unterschiede hinsichtlich von Durchschnittslohn, Arbeitszeit, Privatvermögen? Daß sich die Bundesregierung fortan darum ebensowenig kümmern werde wie um die Unterschiede in den Lebensverhältnissen zwischen Eifel und Alpenvorland? Und gäbe es alsbald nicht Mißvergnügen wie jenes, wenn man die Einkommensobergrenze für ein soziales Förderungsprojekt überspringt? 

Doch vor allem: Darf man die neuen Bundesländer überhaupt sich selbst überlassen, also sie dem wachenden und berichtenden Blick eines auf sie aufpassenden Ostbeauftragten entziehen? Wir wissen doch, daß jenseits von Elbe und Werra Dunkeldeutschland liegt, eine Zone des Rechtspopulismus, ein Brachland geistiger Rückständigkeit, ein Hort gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit, die sich auch gegen Besserwessis richten kann!

Genau diese Verantwortung der Bundesregierung für die Ossis aus dem AfD-Land hat unser Ostbeauftragter betont. Die einen lobten ihn darob, die anderen entrüsteten sich – wie getroffene Hunde, die jaulen. Braucht es also einen Ostbeauftragten? Ja, meint unser Wanderwitz, und zwar mehr denn je: Auch die neue Generation zwischen Ostsee und tschechischer Grenze muß doch erst einmal zu lupenreinen Demokraten erzogen werden – und das können faschistoide Ostdeutsche nicht, wenn man sie mit sich selbst allein läßt! Doch vielleicht liegt das Problem weniger an tatsächlichen Nachwirkungen der zwei deutschen Diktaturen, sondern eher daran, daß man in Deutschland den Spielraum für ächtungslosen politischen Streit immer weiter einengt. Das nämlich mögen gerade jene Leute im Osten gar nicht, die sich auf Bundesdeutschland eigentlich gefreut hatten.