© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

„Links ist das neue Rechts“
Ganz Deutschland ist von einer Meinungsdiktatur besetzt: Ganz Deutschland? Nein, der unbeugsame Zeit-Kolumnist und preisgekrönte Buchautor Harald Martenstein hört nicht auf, Widerstand zu leisten
Moritz Schwarz

Herr Martenstein, wie schwer ist es Ihnen gefallen, unserer Interviewanfrage nachzukommen?

Harald Martenstein: Ich mußte es tun, um glaubwürdig zu sein. Vor ein paar Wochen schrieb ich nämlich in der Zeit eine Kolumne über den neuerdings oft erhobenen Vorwurf „Kontaktschuld“. 

Sie meinen ... 

Martenstein: ... daß Leute angeprangert werden, weil sie mit den angeblich Falschen Kaffee trinken, Geburtstag feiern oder auf einer Demo waren, wo auch Falsche waren – oder zu irgendeinem von Hunderten möglichen Themen das gleiche sagen wie die Falschen. 

Jetzt setzten Sie sich aber doch selbst dem Vorwurf aus. 

Martenstein: Tja, ich lehne das ab und werde mich dem niemals beugen. Außer unter Folter natürlich. Meinungen sind schließlich keine ansteckende Krankheit. Ich rede mit Linken, Rechten, Muslimen, Zeugen Jehovas und auch mit Kriminellen, wenn es sich ergibt. In dieser Hinsicht bin ich der gleichen Meinung wie Jesus, der sich demonstrativ mit dem Zöllner Zachäus eingelassen hat.

Aber der war ja auch kein Rechter. 

Martenstein: Er war als Kollaborateur der Römer den Leuten verhaßt, nicht ganz zu Unrecht. Einem Christen muß das aber egal sein. Die Kirche hat sich in diesem Punkt leider den Pharisäern angenähert.

„Linke, Rechte ... Kriminelle“, sagen Sie. Was halten Sie denn vom Konservatismus und der JF?

Martenstein: Leider habe ich nicht sämtliche Artikel auswendig gelernt, die jemals bei Ihnen erschienen sind. Ich bin vermutlich in vielen Punkten anderer Ansicht, das geht mir bei Artikeln oft so.  Grundsätzlich ist es natürlich legitim, konservativ zu sein, wir können es auch „rechts“ nennen. Denn seit es Demokratie gibt, gibt es auch diese Pole links und rechts. Eine Demokratie, in der es nur links geben darf oder nur rechts, wäre keine mehr. Der europäische Einigungsprozeß ist von Konservativen auf den Weg gebracht worden, Männern wie Adenauer, de Gaulle oder Churchill. Die Gleichsetzung von rechts mit rechtsradikal oder rechtsextrem ist heute üblich, aber historisch gesehen völliger Unsinn. Sie finden in fast jeder Weltanschauung Pragmatiker und Fanatiker, an den Rändern apert es immer aus – wie wir Skifahrer sagen. 

Die Grenze zwischen legitim und illegitim verläuft für Sie also nicht zwischen rechts und links. Sondern? 

Martenstein: Illegitim wird es dort, wo mit Gewalt geliebäugelt, wo der Gegner nicht politisch bekämpft, sondern gehaßt, wo ganzen Menschengruppen die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Sowie dort, wo man die ganze Macht will, also unfähig ist zum Kompromiß. Und das gibt es auf beiden Seiten des Spektrums.

Als junger Mann waren Sie aber doch ein Linker, sogar DKP-Mitglied. Was hat sich bei Ihnen geändert? 

Martenstein: Ich habe mich gar nicht so sehr geändert, die Linke hat sich geändert. Sie ist autoritärer geworden und freiheitsfeindlicher. Ich komme seit über vierzig Jahren, seit meinem Abschied von der DKP, eher aus der antiautoritären Ecke. Deshalb kann ich kein Rechter sein, sorry, Herr Schwarz.

Oh, kein Problem.

Martenstein: Die Linke hat, nach 1968, viel Gutes bewirkt: die veränderte Rolle der Frau, die Befreiung der Sexualität, die Beseitigung des menschenfeindlichen Schwulenparagraphen 175 oder die Erkenntnis, daß Umweltzerstörung ein zentrales Zukunftsproblem der Menschheit ist. Das hätten Ihre Leute nicht zustande gebracht ...

Moment mal! 

Martenstein: Ja, ich weiß, es gab immer auch konservative Ökologen. Das Ideal der Linken hieß Gleichheit, vor allem Chancengleichheit. Davon habe ich als Kind aus eher kleinen Verhältnissen profitiert. Seit sich die linken Parteien aber der Identitätspolitik in die Arme geworfen haben, ist Ungleichheit ihr neues Ideal. Die Menschen werden wieder nach Hautfarben und Geschlechtern sortiert, insofern ist Links das neue Rechts. Am Ende steht eine Art Kastengesellschaft, mit Sonderrechten für diese und jene. Minderheitenrechte muß es geben, aber Minderheiten dürfen der Mehrheit nicht vorschreiben, wie sie zu leben und zu sprechen hat.

Aber öffnen Sie aus linker Sicht nicht der Rechten Tür und Tor, wenn Sie die Linke nun als die neue Rechte bekämpfen? Das muß Ihnen als Linkem doch Kopfschmerzen bereiten. 

Martenstein: Ich bekämpfe die Linke doch nicht, ich sehe nur ihre Fehler. Menschen wie Sie, Herr Schwarz, haben kaum Macht. Journalisten aber sollten – nicht nur, aber vor allem – den Mächtigen auf die Finger schauen. Autoren sollten versuchen, originell zu sein. Wenn jeden Tag fünf Anti-AfD-Artikel in der Zeitung stehen, dann werde ich ganz sicher nicht den sechsten liefern. Ich suche die Leerstellen, das, was mir irre, kritikwürdig oder widersprüchlich vorkommt und von anderen, vielleicht aus Angst vor sozialer Ächtung, nicht zum Thema gemacht wird. Ich kann mir das leisten, ich bin alt und habe Ersparnisse. Meinungsfreiheit ist sowieso der Kern jeder freien Gesellschaft, die brauchen wir wie der Fisch das Wasser. 

Aber offiziell ist die hierzulande gar nicht in Gefahr.

Martenstein: Oh ja, ich höre, wenn es um Cancel Culture geht, manchmal das Argument: „Dafür, daß es kein Problem mit der Meinungsfreiheit gibt, bist du selbst doch der Beweis! Du darfst doch publizieren!“ Na ja. Erstens komme ich mir ziemlich mittig und kein bißchen radikal vor. Zweitens dürfte man nach dieser Logik erst dann die Meinungsfreiheit verteidigen, wenn es tatsächlich keine mehr gibt.

Für Ihre vor allem gegenüber der Linken kritischen Kolumnen werden Sie massiv als „Rechter“, „Rassist“ und „Sexist“ angefeindet. Dabei erinnern Ihre Kabinettstückchen oft an Grimmelshausens „Simplicissimus“: Sie greifen nicht direkt an, beziehen vielmehr um zu entlarven einen betont naiven Standpunkt.

Martenstein: Weil ich naiv bin. Ein bekennender Naiver. Nur mit dem Glauben an das Gute im Menschen tue ich mich schwer.

Aha, dann glauben Sie folglich auch nicht, daß es der angeblich guten Linken nach 1968, die Sie oben beschrieben haben, tatsächlich um Freiheit, Demokratie etc. ging? Ging es ihr in Wahrheit nicht immer eigentlich um Macht, Kontrolle, ideologische Herrschaft?

Martenstein: Sie sollten zwischen den Extremisten und der demokratischen Linken unterscheiden, umgekehrt verlangen Sie das schließlich auch. Und um Macht geht es in der Politik doch immer. Ihnen geht es auch darum. 

Nein, nein, wir sind selbstverständlich völlig selbstlos, ganz dem Ideal verschrieben, reine, edle Toren ... 

Martenstein: Sie würden das gleiche versuchen, wenn Sie am Drücker sind, Herr Schwarz, und ich würde Ihnen viel Ärger machen, versprochen! Mal schauen, was dann mit mir passiert. In Polen und Ungarn etwa versucht die Rechte, Ihre Freunde, die Justiz unter Kontrolle zu bekommen. Es ist aber wichtig, daß es keine totale Macht gibt, sondern funktionierende Gewaltenteilung. Opposition muß legitim sein – sogar dann, wenn die Opposition einen Dachschaden hat. Die extreme Linke, um auf Ihre Frage zurückzukommen, reklamiert für sich eine grundsätzliche moralische Überlegenheit: Wir haben die edleren Ziele! In Anbetracht von Abermillionen Ermordeten, in der Sowjetunion, in China, in Kambodscha und anderswo, ist das eine gewagte These. Über Ziele, die einen zum Massenmörder machen können, sollte man ruhig einmal selbstkritisch nachdenken.

In der Bundesrepublik standen sich lange Rechte – Staat und Wirtschaft – und Linke – Medien und Künstler – in einer Art Gewaltenteilung gegenüber. Inzwischen aber finden sie sich alle, inklusive der etablierten Parteien, in einem weitgehenden weltanschaulichen Konsens. Wir treten also in eine neue Epoche ein. In welche? 

Martenstein: Künstler haben doch gerade aufgemuckt, denken Sie an die Corona-Videos zahlreicher prominenter Schauspieler. Diese Aktion kann man falsch oder dumm finden, aber es handelte sich hier zweifellos um Menschen, die von ihren Bürgerrechten Gebrauch machen. Daß so etwas skandalisiert wird, macht mich fassungslos; da frage ich mich wirklich: wo lebe ich? Wer solche Aktionen für unzulässig hält, hat ein Problem mit Diversität. Natürlich muß immer gestritten werden, natürlich sind Entscheidungen selten alternativlos – daß man so etwas überhaupt sagen muß! Aber woher kommt dieses Autoritäre? 

Bitte, woher denn? 

Martenstein: Es gibt zunehmend politische Projekte, die meiner Meinung nach keine Chance haben, in der Bevölkerung mehrheitsfähig zu werden. Für das, was die alte, klassische Linke wollte, etwa soziale Gerechtigkeit, Reform des Paragraphen 218, gesellschaftliche Liberalisierung, mehr Umweltschutz, für all diese Dinge, die Sie vermutlich zum Teil ablehnen, gab es in der Gesellschaft eine Mehrheit. Manchmal war sie knapp, aber es gab sie. Gendersprache, ungeregelte Migration oder immer detailliertere Quotenregeln, bei denen Eltern von weißen Jungs langsam Angst um deren Zukunft bekommen, sind auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig. Das läßt sich nur mit Druck und autoritär durchboxen.

Ja, aber statt das demokratisch, sprich kritisch, zu hinterfragen, sind viele Medien sogar Antreiber dessen.

Martenstein: Es gibt etablierte Medien, in denen man noch echte Vielfalt erlebt, zum Beispiel die, für die ich arbeite. 

Na ja ... 

Martenstein: Doch, aber ich sehe auch, daß es einfarbiger geworden ist. Deshalb wird sogar ein kreuzbraver Liberaler wie ich manchmal schon als exotische Figur wahrgenommen. Dahinter steckt allerdings keine Verschwörung. Junge Menschen, die von der Uni in die Medien gehen, bringen oft diesen Aktivistenfuror mit, der meiner Generation eher fremd ist. Die wollen nicht Dienstleistende – ich wollte, als alter Rebell, mal Gendersprache in Ihrem Blatt unterbringen – der Lesenden sein, sondern Erzieher. Und je stärker diese Kohorte wird, desto weniger Lust haben alle, die anders ticken, Journalistende zu werden. Es ist eine Art Spirale. Aber ich sehe ein wachsendes Problembewußtsein. Neulich sagte mir ein Kollege: „Früher gab es im Fernsehen Leute wie Gerhard Löwenthal oder Matthias Walden, keine Nazis, aber knorzige Reaktionäre – diese Farbe ist völlig weg.“ Da stimmt doch was nicht! Die Uni-Absolventen, die früher schlecht bezahlte Redakteure geworden wären, werden heute halt Unternehmer und Millionäre.

Sind demzufolge heute Pegida oder die Querdenker nicht das neue Achtundsechzig: Basisbewegung gegen die gesellschaftliche Dominante?

Martenstein: Es gibt Gemeinsamkeiten, klar. Eine neue Apo. Bei Pegida gab es so widerwärtige Erscheinungen wie Galgen, die mitgeführt wurden und an denen Frau Merkel baumeln soll. Die Querdenker sind schwer auf einen Nenner zu bringen, auch nicht auf einen rechten. Bei der alten Apo hatten manche eine offene Flanke zur Pädophilie oder riefen hirntote Parolen wie „USA-SA-SS“. Man sollte solche Phänomene wie Apo oder Querdenker nicht an ihren extremsten Auswüchsen messen, sondern an ihrem Mainstream. Über allem muß der Satz stehen: Das sind Bürger, die haben Grundrechte, die dürfen das, und wir wollen mal mit denen medial genauso fair umgehen wie mit Linken, die ganze Stadtteile verwüsten und bei denen man hinterher die Motive gründlich auf ihre Ehrenhaftigkeit checkt.

Ihre Meinung zu zwei Parteien bitte: Grüne und AfD.

Martenstein: Die Grünen habe ich zwanzig Jahre lang gewählt, die AfD nie. Die Grünen haben dem Land gutgetan. Erst ihre Erfolge haben die anderen dazu gezwungen, die Ökologie ernst zu nehmen. Sexismus und Rassismus sind traurige Tatsachen und keine Hirngespinste, wie es in der AfD manche glauben. Ich halte es durchaus für nötig, daß in einer repräsentativen Demokratie auch Konservative eine Vertretung im Parlament haben, in Anbetracht einer CDU, die man nur noch unterm Mikroskop von SPD und Grünen unterscheiden kann. Eine konservative Partei, wie etwa die britische, ist die AfD leider nicht. Um das zu sein, müßte sie eine klare Trennlinie zum Rechtsradikalismus ziehen. Der beginnt für mich zum Beispiel dort, wo Naziverbrechen kleingeredet oder relativiert werden. Solange die AfD da im Ungefähren bleibt, wird sie zu Recht keinen Partner finden – ja ist sogar ein Segen für die Linke, weil die ihre Projekte auch ohne eine gesellschaftliche Mehrheit im Parlament durchsetzen kann. Weil niemand mit der AfD stimmen will, gibt es niemals eine Mehrheit ohne Grüne oder SPD. Das haben sie erreicht.

In Ihren Kolumnen dokumentieren Sie unfreiwillig den langsamen Verfall von Meinungsfreiheit und Pluralismus. Deshalb zum Schluß die Frage: Vor was haben Sie Angst, wenn Sie an die Zukunft unseres Landes denken und haben Sie dennoch auch Hoffnung? 

Martenstein: Ich wurde in einer Demokratie geboren und hoffe, daß meine Kinder eines Tages in einer sterben. Angst habe ich, lieber Herr Schwarz, vor so vielem, daß die Liste zu lang werden würde. 






Harald Martenstein, Der preisgekrönte, aber auch vielfach befehdete Journalist zählt zu den renommiertesten Kolumnisten Deutschlands. Als solcher schreibt er für das Zeit-Magazin, den Tagesspiegel sowie den Rundfunk Berlin-Brandenburg und Norddeutschen Rundfunk. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter „Männer sind wie Pfirsiche“, „Nett sein ist auch keine Lösung“ und zuletzt „Jeder lügt so gut er kann. Alternativen für Wahrheitssucher“. Geboren wurde er 1953 in Mainz.

Foto: Querkopf Martenstein: „Opposition muß legitim sein, sogar dann wenn sie einen Dachschaden hat“