© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Die improvisierte Republik und ihre Krisen
Politisches Handeln im permanenten Katastrophenmodus: Der Verlust von Normalität prägt Regierende wie Regierte
Konstantin Fechter

Der Begriff der Krise, welcher nicht nur seit Monaten, sondern schon über Jahre hinweg als die treffendste Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Berliner Republik erscheint, wird instinktiv mit dem Theater der griechischen Antike verbunden. Er suggeriert eine Gefährlichkeit des Augenblicks, einen Moment am Scheidepunkt, der die dringende Notwendigkeit einer Entscheidungsherbeiführung in sich birgt.

In der Tragödie steht der Held vor der Wahl zwischen freiem Fall in die Katastrophe oder einer Wende im letzten Augenblick. Daran geknüpft ist das Versprechen, daß es einen Idealzustand vor der Erschütterung gab, zu dem eine Rückkehr durch Besinnung möglich sei. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ließ daher jüngst in beschwichtigendem Tonfall vorlauten, es sei nun an der Zeit, „wieder Brücken zu bauen zwischen Menschen und Gruppen, die die Pandemie verfeindet hat“.

So spricht jemand, der zur Tagesordnung übergehen möchte. Brücken zur Normalität benötigen jedoch Pfeiler auf einem tragfähigen Fundament. Als am 27. Januar 2020 der erste Covid-Infizierte Deutschlands festgestellt wurde, war dieses schon längst im Zuge einer tiefgreifenden sozialen Desorganisation abgetragen. Das Ende des Kalten Krieges und das Abhandenkommen eines funktionellen äußeren Feindes führte in vielen Staaten zu einem Autoritätsverlust im Inneren mit einer sich ständig in ihrer Intensität steigernden Kette von politischen, sozioökonomischen und ethnischen Spannungsfällen. Vor der Epidemie war es das ungelöste Migrationsproblem, davor der abgründige Finanzexzeß, welcher auf einen europapolitischen Legitimationsstreit folgte, der sich nach dem Kater der Wiedervereinigung ankündigte. Das Leben in der westlichen Hemisphäre wird nicht mehr sporadisch von eruptiven Ereignissen heimgesucht, sondern hat längst eine neuralgische Krisenkultur ausgeprägt. Die dieser innewohnende Erfahrung des Verlustes und der Verlassenheit ist die Begleiterscheinung einer großen Auflösungstendenz, die eine Welt des Übergangs bestimmt, in der der Einzelne nur noch schwer seinen festen Stand findet. 

Die parteiübergreifende Konzeptlosigkeit läßt sich als ein improvisiertes Handeln im permanenten Katastrophenmodus verstehen. In der Improvisation legt man das Zepter der Initiative aus der Hand und unterstellt alle Verhaltensweisen einem reaktiven Handlungsmuster. Es gleicht einem Seemann, der im Sturm seinen Kurs aufgibt und nur noch von Wellenkamm zu Wellenkamm denkt. Wenn sich Politik jedoch von der Berechnung des Möglichen auf die Lebenserhaltungsmaßnahmen eines Ordnungssystems reduziert, gilt, was schon Balzac wußte: „Es gibt keine Prinzipien, es gibt nur Ereignisse, es gibt keine Gesetze, es gibt nur Umstände.“

Dort wo keine Verbindlichkeit mehr herrscht, sanktioniert sich die skrupellose Argumentation der Notwendigkeit selbst. Der einzelne Regelbruch wird bedeutungslos und sogleich im darauffolgenden vergessen. Er untersteht der Logik des Süchtigen, welche in jedem neuen Rückfall nur ein allerletztes Mal erblicken will. Derweil dominieren jedoch Überraschung und Hysterie, wenn Strategie und seismographisches Gefahrenbewußtsein durch das illusionäre Wunschdenken auf unverhoffte Besserung ausgetauscht werden. 

Im Politikstil des panischen Moments ersetzt das Fahren auf Sicht ein durchdachtes Vorgehen, die Absicherung der persönlichen Stellung den Dienst für das Gemeinwohl. Der dauerpräsente Notfall legitimiert mit apokalyptischer Rhetorik ein alternativloses Durchregieren ohne Maß und Verstand. In der Betriebshektik des Improvisationsregimes wird die Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen der Dramaturgie des Ausnahmezustands geopfert, zur Drohkulisse umfunktioniert und systematisch für die Durchsetzung einer Stegreifstaatsführung instrumentalisiert. 

Wird die Krise zur Gewohnheit, hat das Auswirkungen auf Regierende wie Regierte. Ein Unbehagen, resultierend aus dem Empfinden, in eine Phase erhöhter Fragilität getreten zu sein, macht sich breit und nagt am notwendigen Einvernehmen zwischen Anführern und Geführten. Der Verlust von Zustimmung aufgrund der eklatanten Führungsschwäche wird durch eine forcierte Angstpolitik kompensiert. Die neurotisierte Bürgerschaft gerät in eine chronische Dauererregung, die durch die mediale Beschallung staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure aufrechterhalten wird. Die Liste an vermeintlichen Verfassungsfeinden, Wahrheitsleugnern und Klimaignoranten wächst so stetig an. Das Verdikt der Panikmasse ist eindeutig und schnell gefällt: Wer widerspricht, dem ist nicht zu trauen. Je stärker der Kontrollverlust, desto strenger und schriller werden die Disziplinierungsrituale.

Furcht und Unsicherheit dienen jedoch nicht als Grundlage einer Staatsräson, sondern deformieren die Psyche der Bevölkerung. Gereiztes Mißtrauen gegenüber den Verantwortlichen wie auch den Mitbürgern prägt das Beziehungsgeflecht eines multiethnischen Sozialwesens ohne Gebrauchsanweisung. Wirklichkeit, Schein und Lüge geraten in ein immer uneindeutigeres Verhältnis. Indem keine nennenswerte Bindung zwischen Regierungsverantwortlichen und den verschiedenen partikularistischen Lagern mehr existiert, entsteht im postnationalen Flickenteppich eine bunte Lebensrealität, die wenig Beißhemmung kennt, dafür aber Lust auf Verdächtigung und Entsolidarisierung spürt. 

Mit dem Ende des Corona-Konflikts wird nur eine partielle Stabilität zurückkehren. In vielen Teilen der Bevölkerung wachsen antagonistische Narrative, die voneinander separierte Wirklichkeitsverständnisse formen und ihre Träger vollständig gegenüber Dialog und objektiver Faktenüberprüfung immunisieren. Der lagerübergreifende Austausch beläuft sich nur noch auf ein Signalisieren gegenseitiger Verständnislosigkeit und Abneigung. Im Zorn und Ressentiment der Grabengesellschaft geraten auch sinnvolle Regierungsvorhaben schnell in den Verruf, eine weitere kontrollierende Herrschaftstechnik zu sein.  

Wenn selbst die Leitpolitik nicht viel mehr als ein improvisiertes Gemeinwesen verkörpern kann, das sich von Erschütterung zu Erschütterung zu retten versucht, dann schlägt die Stunde der Meinungsfänger, die hohle Versprechen als festen Halt verkaufen können. Je mehr die weltanschauliche Verankerung durch religiöse, soziale und kulturelle Milieus schwindet, desto auffälliger wird die Bereitschaft, sich provisorischen Sozialkollektiven anzuschließen. Diese Krisenkulte sprießen in immer kürzeren Abständen aus dem Nichts, sammeln eine fanatisierte Anhängerschaft um dubiose Führerfiguren, erzeugen mächtig Lärm und Krawall, nur um ebenso schnell wieder zu verschwinden.

Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung schwanken die Demonstrationszüge auf deutschen Straßen zwischen berechtigter Empörung, offener Verzweiflung, Lust auf Entgleisung und unverhohlenem Wahn. Politische Artikulation weicht dem Hoffen auf ein gemeinschaftliches Erweckungserlebnis und der Sehnsucht nach überindividueller Ordnungsanbindung. In der „Konvergenz der Katastrophen“ (Guillaume Faye) werden die Verunsicherten so von den Sirenengesängen der selbsternannten Welterklärer und Politgurus gelockt.

Indem sich die gewählten Improvisationskünstler von der Komplexität supranationaler Machtstrukturen überfordert erweisen, profitieren jene davon, die diesen Führungsverlust durch sinistre Geheimpläne zu erklären versuchen. Der Verschwörungsverdacht wird zum individuell zugeschnittenen Glaubensangebot, bei dem für jeden eine passende Weltdeutung vorhanden zu sein scheint. 

Der Scholastiker Wilhelm von Ockham erkannte schon vor siebenhundert Jahren in seinem heuristischen Sparsamkeitsprinzip, daß eine Erklärung dann überzeugt, wenn sie über wenig Variablen und Hypothesen verfügt. Politisches Versagen muß nicht immer einen doppelten Boden beinhalten, sondern kann lediglich das Produkt einer tragischen Verknüpfung von Verblendung, Willenlosigkeit und Opportunismus sein. Die Suche nach den grauen Eminenzen und verborgenen Weltenlenkern erzwingt dort die Schimäre der Kausalität, wo sich historische Tendenzen längst selbst verstärken.  

Die deutschen Bürger haben etwas Besseres als politische Improvisation und soziale Flüchtigkeit verdient. Eine Opposition, die diesem Wiederverortungsauftrag gerecht werden möchte, muß jedoch dem Prinzip der Wirklichkeit unterstehen. Jenseits einer naiven Wissenschaftshörigkeit sollte sie mit nüchternem Blick sezieren, wo systematisch Lügen gestreut werden oder nur eine Verkettung widriger Umstände vorliegt. Dafür benötigt es die schonungslose Lagefeststellung ohne ideologische Scheuklappen. Ihr täte es gut, das vielfache Scheitern der Merkel-Regierung als eine Politik der Kopflosigkeit zu enttarnen und nicht in den Chor derer einzustimmen, die Globalismus, Impfstrategie und Klimawandel zu mythischen Fabelwesen aufblähen. Eine realpolitische Haltung der Verantwortung mit Sinn für das Konkrete anstelle von diffuser System-skepsis – das wäre ein tragfähiger Brückenschlag in diesen aufgeregten Zeiten.






Konstantin Fechter veröffentlichte im Kulturteil zuletzt die Essays „Cromwells Schädel“ über Empörungsrituale und Löschkultur (20/21) sowie „Unter der Maske (JF 15/21) über Verbitterungen, die in die innere Emigration führen.