© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Ideologie mit religiösen Zügen
Alle reden neuerdings viel von „woke“ und „wokeness“. Was aber meinen diese Begriffe wirklich?
Eric Kaufmann

Der wohl bekannteste und größte Podcaster weltweit, Joe Rogan, hat es nicht leicht in diesen Tagen. Wer die bestimmende Ideologie unserer Zeit angreift, der braucht ein dickes Fell. Kürzlich wagte es der 53jährige den neuen Puritanismus zu kritisieren. „Du kannst niemals ‘woke’ genug sein, das ist das Problem“, erklärte der 53jährige in seiner Show. Gerade weiße Männer würden durch die „woke“ Kultur zum Schweigen gebracht. Seine Äußerungen sorgten in der linken Netzgemeinde für einen heftigen Aufschrei.

Dabei sind seine Beobachtungen ganz richtig: „Wokeness“ ist mittlerweile die dominierende Ideologie in allen westlichen Institutionen. Was aber der Begriff bedeutet, darüber herrscht häufig genug Unklarheit. Für seine Anhänger ist „woke“ nur ein böser rechter Beiname. Dabei meint er eigentlich etwas ganz Konkretes, das einem klaren empirischen Phänomen entspricht. „Wokeness“ kann als die „Sakralisierung von historisch marginalisierten Rassen-, Geschlechts- und sexuellen Identitätsgruppen“ definiert werden.

In der „Wokeness“-Weltanschauung dienen rassische und sexuelle Minderheiten neben Frauen als heilige Totems, die nicht beleidigt werden dürfen. John McWhorter, Professor für Anglistik und Komparatistik an der Columbia University, nennt das Glaubenssystem die „Religion des Antirassismus“, in der weiße progressive Gläubige als calvinistische Auserwählte fungieren, eine göttlich auserkorene Gruppe mit einer gottgegebenen moralischen Sensibilität. Obwohl Geschlecht und Sexualität auf dem Totempfahl weiter unten stehen als die Rasse, können diese Identitätskategorien zu McWhorters Rassenreligion noch hinzugefügt werden. 

„Woke“ Ideologen verhalten sich wie Theologen. Sie lesen in den Köpfen der geheiligten Minderheitengruppen und fragen: „Was würde das sensibelste Mitglied einer historisch marginalisierten Gruppe wohl denken?“ Wenn sie spüren, daß eine imaginäre Minderheit beleidigt sein könnte, erlassen sie ein theologisches Dekret gegen den Ketzer, der gegen den „woken“ Moralcode verstoßen hat und versuchen, die Gläubigen aus der Onlinewelt hinter ihrem Kreuzzug zu versammeln. 

Für Ketzer gibt es kein Entkommen vor dem Twitter-Mob 

Diejenigen, von denen angenommen wird, daß sie die Totems beleidigt haben, indem sie vielleicht das N-Wort zitieren, einer Person aus einer Minderheit das Kompliment aussprechen, sie sei „so wortgewandt“, oder Wörter mit „kolonisierenden“ Anklängen wie „Pionier“ oder „Tropenmedizin“ verwenden, werden in den sozialen Medien verdammt. Für sie gibt es kein Entkommen. Ein Twitter-Mob setzt dann zum Angriff an, in der Hoffnung, dem Ruf des Ketzers maximalen Schaden zuzufügen.

Der typische Modus operandi besteht darin, die Entlassung des Täters zu fordern und einen offenen Brief oder eine Petition an den Arbeitgeber zu schicken, die andere rechtschaffene Menschen dann unterschreiben können. Diejenigen, die diese Tweets mögen oder unterschreiben, zeigen damit ihre Zugehörigkeit zu den Auserwählten. Unternehmen, die jene Übeltäter dann feuern und Symbole wie das „Black Lives Matter“-Logo lobpreisen, signalisieren ebenfalls ihre Zugehörigkeit zu einer moralischen Elite und üben Druck auf Nachzügler aus, es ihnen gleichzutun. Im Englischen spricht man auch vom „virtue signaling“. Daraus resultiert der Aufstieg der „woke corporations“, des wachen Unternehmertums.

Gleichzeitig ist jede Politik, die darauf hinausläuft, den geheiligten Gruppen zu helfen, wie zum Beispiel Masseneinwanderung, Multikulturalismus oder das Recht, sich als das Geschlecht zu identifizieren, das man gerade möchte, allein durch Assoziation heilig. Diejenigen, die eine solche Politik kritisieren, sind durch ihre Verbindung zu Rassismus, Sexismus oder Transphobie sofort schuldig. Das Ziel ist es, solche Politiken unantastbar zu machen, sie aus der demokratischen Debatte zu entfernen – ob auf dem Campus, in den Medien oder in der Legislative. Daher müssen genderkritische Feministinnen, die in Frage stellen, ob biologische Männer als Frauen angesehen werden können, oder Konservative, die glauben, daß Vielfalt die Solidarität in der Gesellschaft eher verringert, zum Schweigen gebracht werden.

Eine Form des Sozialismus mit therapeutischer Sprache

Woke-Ideologen nutzen die Heiligkeit von Rasse, Geschlecht und Sexualität, um die Grenzen von Rassismus, Sexismus und Transphobie immer weiter auszudehnen. Sie untergraben Polizeiarbeit („Defund the police“, ein mittlerweile populärer Schlachtruf der BLM-Bewegung), wollen keine Grenzkontrollen, kritisieren Wähleridentifikationsgesetze und sprechen sich sogar gegen standardisierte Tests aus (einige Einstellungstest für Universitäten gelten plötzlich als rassistisch).

Während „Wokeness“ also bestimmte Rassen-, Geschlechts- und sexuelle Identitätsgruppen mit Weihwasser salbt, sind Weiße und Männer dabei die Gefallenen: Sie können die Sünden ihrer Vorfahren nur dadurch wiedergutmachen, daß sie den Ausgegrenzten als Verbündete dienen und die „Wokeness“-Politik mit genügend Eifer unterstützen. Dann sind sie die „Guten“, die ständig auf der Hut sein müssen vor den satanischen Weißen und Männern, die die Gesellschaft zurück in die verdorbene Vergangenheit ziehen wollen.

Denn im Grunde gleicht alles, was vor den 1960er Jahren geschah, der biblischen Zeit vor der Sintflut oder dem, was die Muslime „Dschāhilīya“ nennen, dem Zeitalter vor der Moral. Statuen, Straßennamen, Flaggen und Helden aus dieser Zeit sind allesamt verdächtig und sollten verunstaltet oder umbenannt werden. Die „woke“ Ideologie hegt die Hoffnung, daß wir, sobald die Übeltäter zur Rechenschaft gezogen, der „systematische“ Rassismus durch Quoten und Redebeschränkungen abgebaut und die Geschichte umgeschrieben wurde, wie John McWhorter anmerkt, „im Licht“ eines Jahrtausends der Gleichheit und Vielfalt wandeln werden. Hierzu verschmilzt die Ideologie Identitätskategorien aus dem Liberalismus – Religion, Rasse, Geschlecht – mit der revolutionären Opfer-Unterdrücker-Weltanschauung des Sozialismus und garniert sie mit einer neo-freudianischen therapeutischen Sprache, die sich auf subjektive Gefühle und psychische Empathie konzentriert. Daher stammt auch die aktuelle Betonung der „emotionalen Sicherheit“ und der „auslösenden“ verbalen Beleidigungen, die das Gerüst der „Mikroaggressionen“ bilden. 

Die Wurzeln dieser Ideologie liegen in den 1910er Jahren bei amerikanischen Bohème-Intellektuellen wie Randolph Bourne, die ihre eigene weiße angelsächsische protestantische Gruppe angriffen und sie aufforderten, ihre langweilige Kultur aufzugeben, Kosmopoliten zu werden und die aufregende Vielfalt der europäischen Einwanderer und – seit den 1920er Jahren – der Afroamerikaner zu begrüßen. Als der Sozialismus unter den westlichen Intellektuellen zwischen den stalinistischen Säuberungen der dreißiger Jahre und dem Fall der Berliner Mauer 1989 schrittweise ausstarb, schwenkte die Linke von der Wirtschaft zur Kultur, von der Klasse zur Identität. Diese Ideologie, die ich als Linksmoderne („left-modernism“) bezeichne, hat sich vor allem seit den sechziger Jahren zunehmend verfestigt. Fast jede Idee von „Wokeness“ existierte bereits in den Siebzigern in der radikalen Theorie; was sich seitdem ereignet hat, ist lediglich eine Vergrößerung ihrer Reichweite, im neuen Jahrhundert noch einmal verstärkt durch Online-Nachrichten und soziale Medien.

Trotz ihres religiösen Charakters ist die „woke“ Ideologie im Grunde eine Form des Sozialismus, die darauf abzielt, Reichtum, Macht und Prestige von historisch dominanten Gruppen der Rasse, des Geschlechts und der Sexualität auf die historisch Marginalisierten umzuverteilen. Sie versucht das, was sie als das fragile Selbstwertgefühl von Minderheiten ansieht, zu schützen, indem sie den Liberalismus mit Füßen tritt und die Rede von Kritikern der Gleichheit und Vielfalt im Namen des Selbstwertgefühls von Minderheiten zensiert.

Angehörige von Minderheiten, die dies ablehnen, werden als Rassenverräter verhöhnt, die das sogenannte Weißsein verinnerlicht hätten, obwohl mehr als die Hälfte der schwarzen Amerikaner die Politische Korrektheit als erniedrigend empfinden und sich gegen Rassenquoten aussprechen. Letztlich kann nur die Säkularisierung der „Wokeness“ – also die Entsakralisierung von Minderheiten aus einer Position erhöhter Fragilität in eine Position robuster Gleichheit – den Bann dieser Religion über das öffentliche Leben brechen.






Eric Peter Kaufmann, Jahrgang 1970, ist Professor für Politik am Birkbeck College der University of London.