© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

CD-Kritik: Anton Bruckner
Die Unvollendliche
Jens Knorr

Sie scheint sich ihrer Einvernahme immer weiter zu entziehen, Anton Bruckners unvollendete neunte Symphonie, komponiert zwischen 1887 und 1896. Aber Gerd Schaller will sie ja gar nicht einvernehmen, die er bereits dreimal mit seiner Philharmonie Festiva eingespielt hat, mit der Vervollständigung des Finalsatzes von William Carragan (2012), mit der von Schaller selbst (2016), die er nochmals revidierte (2018). Der Dirigent und Organist will auf ihre Essenz kommen. Um Bruckner noch besser zu verstehen, die Strukturen seines symphonischen Denkens nachzuvollziehen, hat Schaller sie für Orgel transkribiert und an der Hauptorgel der ehemaligen Abteikirche Ebrach eingespielt.

Immer, wo es Schallers Bearbeitung und Spiel, skelettierend, meditierend, phantasierend, den Klang des Bruckner-Orchesters aus dem Gedächtnis des Hörers zu tilgen gelingt, stellen sich frappante Wirkungen ein, Einzelstimmen unvermuteter Zartheit, achtsam eingesetztes Schwellwerk, volles Werk: alles da. Mit der Heimholung orgelspezifischer Elemente des Orchesterklangs an ihren Ursprungsort stellt sich aber auch der fatale Eindruck einer Heimholung Bruckners in die Kirchenmusik ein, deren enge Räume der Symphoniker längst hinter sich gelassen hatte.

Es sei ihm darum gegangen, ein eigenständiges Orgelwerk zu schaffen, sagt Schaller – oder vielleicht auch ein wenig darum, einem Schlußsatz für Bruckners Unvollendete näherzukommen, der alle in ihr aufgeworfenen Probleme löst und den babylonischen Turmbau abschließt?

Anton Bruckner 9. Symphonie für Orgel Profil Edition Günter Hänssler, 2020  www.haensslerprofil.de www.gerd-schaller.de