© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Systemversagen
Katholische Kirche: Mit seinem Rücktrittsgesuch will Kardinal Reinhard Marx ein Zeichen für Reformen setzen
Gernot Facius

Die Causa Marx, wie immer sie ausgehen mag, markiert eine Zäsur im deutschen Katholizismus: Kardinal Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, hat mit seinem beim Papst hinterlegten Rücktrittsantrag ein mittleres Beben in der von Mißbrauchsskandalen zerzausten Kirche ausgelöst. Ein Purpurträger, weltweit vernetzt und Mitglied in einflußreichen vatikanischen Beratergremien, eine der Schlüsselfiguren in der Kirche in Deutschland, erst 67 Jahre alt, bot dem Pontifex in Rom den Amtsverzicht an – ein seltener Fall in der Kirchengeschichte.

Weitet sich die Causa Marx zu einer Lösung nach chilenischem Muster aus? Zur Erinnerung: 2018 hatten die Bischöfe des Pazifikstaates nach ähnlichen Mißbrauchsvorkommnissen dem Papst nahezu geschlossen ihre Demission angeboten, einigen Anträgen wurde stattgegeben. Wie wird Rom diesmal verfahren? Noch ist in Deutschland nur etwas vage von einem „Wendepunkt“ die Rede, ohne ihn eindeutig zu definieren. Der Episkopats-Vorsitzende Georg Bätzing (Limburg) fordert fundamentale Reformen. „Alle, die denken, daß die Kirche aus dieser massiven Krise herauskommen könnte durch ein paar Schönheitsreparaturen äußerlicher Art, juridischer Art, verwaltungsmäßig, die täuschen sich“, sagte Bätzing in den ARD-„Tagesthemen“. Auf „Systemversagen“ könne es nur „systemische Antworten“ geben, die „fundamental sind“. Es brauche „Kontrolle auf jeder Ebene von Machtausübung in der Kirche“. Ein Plädoyer für einen Neuanfang, eine Absage an die alten Mechanismen von Vertuschung.

Der Kölner Erzbischof Woelki denkt nicht an Rückzug

In seinem Schreiben an den Papst betonte Kardinal Marx, daß Ereignisse der vergangenen Wochen für seine Rücktrittsbitte nur eine untergeordnete Rolle spielten. Aber das sieht zum Beispiel der in Münster lehrende Theologe Thomas Schüller ganz anders. Marx, vermutet Schüller, greife seinen Kölner Amtsbruder Rainer Maria Woelki frontal an, wenn er von denen spreche, die nicht bereit seien, die systemischen Ursachen der sexualisierten Gewalt in der Kirche mit mutigen Reformen anzugehen. Und die Frankfurter Allgemeine kommentierte: Anstatt sich wie Woelki durch versierte Strafverteidiger von jeder Verantwortung freisprechen zu lassen, gehe Marx mit der Heuchelei von seinesgleichen hart ins Gericht.

Löst der Münchner Kardinal mit diesem Schritt die Probleme? „Eher nicht“, meint zum Beispiel Peter Bringmann-Henselder vom Kölner Betroffenenbeirat. „Er stiehlt sich aus der Verantwortung, überläßt seinem Nachfolger diese heikle Aufgabe.“ Selbst das von ihm angekündigte neue Gutachten, das im Sommer erwartet wird, wolle er nicht selbst präsentieren. „Wird er darin womöglich der Vertuschung überführt?“

Das ist in der Tat eine Frage, die in vielen Kommentaren gestellt wird. Und in Köln, beim Betroffenenbeirat, empört man sich auch über die Bemerkung von Marx, daß er durch seinen Rücktritt Verantwortung tragen wolle, die Institution Kirche zu schützen. Das gehe doch genau in die Richtung, die die Betroffenen „satt haben“: Es habe nahezu immer der Schutz der Institution Kirche im Vordergrund gestanden. Genau hier müsse ein Umdenken stattfinden. Bringmann-Henselder in der Würzburger katholischen Tagespost: „Dem müßte sich Marx stellen, aber was macht er? Er zieht sich zurück und läßt andere die Drecksarbeit machen.“

Woelki wiederum zollte seinem Münchner Amtsbruder, mit dem er nicht immer im besten Einvernehmen lebte, „großen Respekt“ dafür, daß er „in diesen für die katholische Kirche schweren Zeiten persönliche Konsequenzen gezogen hat“. Der Kölner Erzbischof – ihm wurde vom Papst eine Untersuchungskommission ins Haus geschickt – hat ein anderes Zeichen als sein Pendant an der Isar gesetzt: Er denkt nicht daran zu demissionieren, sondern sagt: „Mit allen Kräften will ich mich dafür einsetzen, daß die Aufarbeitung weitergeht. Und ich will die Veränderung vorantreiben.“ Im Episkopat ist man sich also nicht einig, wie man aus der Krise herausfinden kann.

Im Magazin Cicero nennt der frühere Münchner Generalvikar Peter Beer den angebotenen Amtsverzicht von Marx eine „Entscheidung der Stunde“. Zitat: „Es ist die um der Sache willen eigentlich einzig vernünftige und aufrechte.“ Hingegen wurde der Papst von führenden Laien-Vertretern im Erzbistum München und Freising eindringlich gebeten, das Demissionsangebot nicht anzunehmen. Reinhard Marx hat sich auf seiner Pressekonferenz in München allerdings schon festgelegt: Mit seinem Amtsverzicht könne vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt werden für einen neuen Aufbruch der Kirche.