© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Das Bürgertum steht links
Was ist vom ursprünglichen Bürgertum noch übrig? Das einstmals prägende Bekenntnis zur Nation wurde längst abgelöst durch einen kosmopolitischen Linksliberalismus
Björn Harms

Ob in Talkshows oder Leitartikeln – das Thema „Bürgerlichkeit“ beschäftigt die Phantasie von vielen Politikern und Journalisten. Dabei beanspruchen das Attribut „bürgerlich“ fast alle Parteien für sich – von den Grünen bis hin zur AfD. Was aber ist heute noch bürgerlich? Und vor allem wer? Im politischen Diskurs dominiert in diesem Zusammenhang noch immer die Lagertheorie Heiner Geißlers. Als Generalsekretär der CDU bezeichnete Geißler in den 1980er Jahren alles rechts der Mitte als das „bürgerliche Lager“ (Union und FDP). Diesem stellte er das „linke Lager“ gegenüber (SPD und Grüne). Auch wenn die Abgrenzung schon damals diskussionswürdig war, bildet sie bis heute den Kern des Denkens vieler Konservativer. Um es kurz und schmerzlos zu machen: Die Einteilung ist überholt, veraltet und könnte heutzutage falscher nicht sein. Das Bürgertum steht im 21. Jahrhundert überwiegend links.

Seit der Herausbildung als eigene Gesellschaftsschicht im späten 18. Jahrhundert war das Bürgertum davon geprägt, den eigenen Stolz auf Besitz und Bildung mit einem Bekenntnis zur Nation zu verbinden, um so zur „inneren Staatsbildung“ (Otto Hintze) beizutragen. Ein Teil dieser Wahrheit setzt sich bis heute fort. Den Citoyen aber, den Staatsbürger, der sich eben nicht nur auf ein bloßes Besitzbürgertum zurückzieht, gibt es heute kaum mehr. Denn wo einst das Gehäuse des Bürgerlichen der Nationalstaat war, prägt heute die offene Gesellschaft die bildungsaffinen Kreise. Der kosmopolitische Weltbürger dient als das Maß aller Dinge. Ein Bekenntnis zur Nation sucht man unter Intellektuellen und Politikern meist vergebens. 

Dieser Rückzug auf das Individuum mündet in einer ganz eigenen Art von Pharisäertum. Bürgerlichkeit war stets eingehegt in eine konservative Lebensführung, von der sich auch das moderne linksliberale Bürgertum nicht einfach lösen kann. Lediglich die Grenzen der Abwehr haben sich verschoben. Den „Einbruch des Elementaren“, gegen den der Bürger seinen eigenen Lebensraum stets „hermetisch abdichten“ wollte (Ernst Jünger), hält man nicht mehr an der Staatsgrenze auf. Einwanderung wird zwar als notwendig begrüßt, doch die Toleranz endet am eigenen Gartenzaun. Multikulti? Vielfalt? Ja, bitte! Aber muß das neue Flüchtlingsheim denn wirklich direkt nebenan gebaut werden? Gott bewahre! Daß diese Rechnung niemals aufgehen wird, sollte klar sein.

Minderheiten formulieren ihre veritablen Gruppeninteressen

Gerade durch die Abwendung von der Nation und die Verneinung bindender gesellschaftlicher Kräfte schneidet man sich ins eigene Fleisch. Auf der ganzen Welt formulieren derzeit Minderheiten ihre veritablen Gruppeninteressen, ob in den USA oder in Europa. Der linksidentitäre Unterbau dient als Mittel zum Zweck. An Macht in einem Staat kann schließlich nur gelangen, wer sich als Kollektiv versteht. Einmal verinnerlicht, wirkt dieser Grundgedanke mitunter stärker als die demographischen Verhältnisse. Zwar bilden Deutsche die Mehrheit der Bevölkerung. Doch haben sie sich auf einen bürgerlichen Universalismus zurückgezogen und so den Willen zur Macht aus der Hand gegeben. Die von der bürgerlichen Mitte vorangetriebene liberale Kritik an der Identitätspolitik, die jeglichen Kollektivgedanken verwirft, gleicht somit vor sich hinplätschernder Fahrstuhlmusik. Sie läuft nebenbei, ohne daß sich irgend jemand für sie interessiert. Der Angriff der „woken“ Avantgarde wird argumentativ abgewehrt und überwunden, ein längst fälliger Gegenangriff bleibt aus.

Dennoch kann wohl kaum bestritten werden, daß es den klassischen konservativen Bildungsbürger tatsächlich noch gibt – wahrscheinlich sogar öfter als man vermutet. Er repräsentiert jedoch schon lange nicht mehr den zeitgemäßen Idealtypus. Ihm obliegt auf der Weltbühne eher eine museale Funktion, die sich von einer gewissen Tragik kaum freisprechen kann. Als öffentliche Person tritt er gleich einem scheuen Reh nur gelegentlich auf. Meist nimmt er dann die zugewiesene Rolle ein, die linke Diskurswächter für ihn vorgesehen haben. Er beschwichtigt, mahnt zum Ausgleich, appelliert an die Vernunft und kritisiert mit blumigen Worten die kollektive Moralpsychose und Identitätsvernarrtheit unserer Zeit, ohne jedoch wirklich gefährlich zu werden, die Defensive zu verlassen oder gar die Deutungshoheit anzugreifen. Seht ihr, lacht dann die Linke, wo ist jetzt eure Meinungsfreiheit bedroht? Ihr dürft doch frei zu Wort kommen?

Für junge Denker, die den Zeitgeist auf Augenhöhe kritisieren wollen, ist dieser Charaktertyp irrelevant geworden. Aber: Die Feststellung des Aussterbens klassischer Bürgerlicher bedeutet keinesfalls, ursprünglich bürgerliche Tugenden ohne Rücksicht auf Verluste hinter sich zu lassen. Die „geformte, vom elementaren Hunger nach geistigen Erfahrungen lebenslang geprägte Persönlichkeit“, wie Joachim Fest sie beschreibt, ist noch immer gefragt. Man findet sie jedoch kaum mehr im heutigen bürgerlichen Milieu, sondern in konservativen Parallelgesellschaften. Verschwunden ist die „Leidenschaft für die Teilhabe an der Kultur“, oder besser gesagt, die Teilhabe an der eigenen Kultur. Denn in einem universalen Sinne ist der Bildungsbürger noch immer vorhanden. Und gerade an seiner Person läßt sich der Schwenk von rechts nach links am besten darstellen, wie eine Ende Mai publizierte Studie eindrucksvoll beweist.

Die Ökonomen Thomas Piketty, Amory Gethin und Clara Martinez-Toledano hatten die Daten von über 300 Wahlen zwischen 1948 und 2020 ausgewertet, um die veränderten Wählerpräferenzen in 21 westlichen Demokratien zu untersuchen. Die Studie läßt den Aufstieg des Rechtspopulismus tatsächlich wie eine historische Unvermeidlichkeit wirken. Laut den Daten hat sich zwischen den 1960er Jahren und heute nicht viel daran geändert, daß Besserverdiener eher Parteien rechts der Mitte wählen, wenngleich linke Parteien hier aufholen. Piketty spricht von der „Merchant Right“, der kaufmännischen Rechten, die auch durch viele Selbständige geprägt ist. Wähler von Mitte-Rechts-Parteien weisen dabei ein deutlich höheres Einkommen auf als die Anhänger weiter rechts stehender Anti-Einwanderungsparteien.

Wirklich dramatisch änderte sich jedoch der Bildungshintergrund der Wähler auf rechter und linker Seite. Personen mit höherqualifizierter Bildung wechselten über die Jahrzehnte von rechts nach links. Die weniger Gebildeten ohne Universitätsabschlüsse wanderten wiederum von links nach rechts. Ein Phänomen, welches sich nicht nur in Deutschland zeigt, sondern auch für Großbritannien, Frankreich, Schweden und Dutzende weitere Länder seine Richtigkeit hat. Ehemals linke Arbeiterparteien wurden so zu Parteien des Bildungsbürgertums. Wenngleich natürlich angezweifelt werden muß, welchen Stellenwert ein Universitätsabschluß in der heutigen Zeit überhaupt hat. Bildungsbürgertum ist wohl eher als soziologische Kategorie zu verstehen. 

Dennoch: Sobald Parteien damit begannen, gebildete Wähler anzusprechen, denen das Leben in einer linksliberalen, offenen Gesellschaft häufig wichtiger ist als der Wunsch, die Steuern zu senken oder die Einwanderung zu begrenzen, konnten rivalisierende Politiker der Rechten damit anfangen, Wahlen zu gewinnen, indem sie die entgegengesetzte Position einnahmen.

Zugleich weist die Studie darauf hin, wie rasant in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil der Staatsbediensteten in die Höhe schoß, die linke Parteien wählen. Und genau in jenen Berufen (Lehrer, Akademiker, Beamte, politische Funktionäre, Journalisten) findet sich auch der Kern des modernen linksliberalen Bürgertums. Wenn also Personen aus dem liberal-konservativen Spektrum eine „bürgerliche Revolution“ herbeisehnen, dann sind das Phantastereien im luftleeren Raum. Warum sollte das heutige Bürgertum aufbegehren? Eine richtungsweisende Änderung des Systems kann niemals von derjenigen Kraft ausgehen, die es am ehesten stützt.

Konservative Spaßverderber haben endgültig ausgedient

Fernab der Studienerkenntnisse lassen sich natürlich weitere Pole erkennen, die heute unter umgekehrten Vorzeichen stehen. Auffällig sticht vor allem das spießige Gebaren heraus, das sich seit Jahrzehnten auf der Linken breitgemacht hat. Der konservative Spaßverderber hat endgültig ausgedient. Sprachverbote teilen heute die Grünen aus. Was im politischen Diskurs erlaubt ist und was nicht, beurteilen linke Tugendwächter. Worüber gelacht werden darf und worüber nicht, entscheiden empörte studentische Aufklärer. Was der Post-1968er also an seinen Eltern so haßte, die Bevormundung, den erhobenen Zeigefinger, das Muffige, hat er geflissentlich selbst übernommen.

Dazu gesellt sich die omnipräsente Verachtung des einfachen Menschen. Denn der zunehmend mittellose „Somewhere“, der sich der globalisierten Welt der „Anywheres“ verschließt, gilt als ewiggestrig. Er steht der Utopie des globalisierten Imperiums im Weg. Hillary Clinton degradierte Trump-Wähler einst zum „basket of deplorables“ (Korb voller Bedauernswerter), Sigmar Gabriel sprach etwas rustikaler vom „Pack“. Jede Form des Widerstands gegen diese Ideologie wird dementsprechend als anti-bürgerlich gebrandmarkt. Die belehrende Instanz von oben fungiert als eine Art Klerus der Globalisierung.

Wenn also all diese Dinge die moderne Bürgerlichkeit definieren, wenn einem klar wird, daß in diesem Milieu rechte Ansichten kaum mehr von Gewicht sind. Dann muß die ketzerische Frage erlaubt sein: Welchen Sinn hat es für authentische und zeitgeistkritische Nicht-Linke im 21. Jahrhundert – ob als Individuum oder als Partei – sich selbst bürgerlich zu nennen?

Foto: Robert Habeck, Annalena Baerbock: Sprachverbote sprechen heute die Grünen aus