© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

In Bismarcks Fußstapfen
Kampf zwischen Imperien und Ideologien: Das Computerspiel „Victoria“ erhält eine Fortsetzung
Tobias Albert

Wer würde nicht einmal gerne die Geschicke eines ganzen Staates leiten? Nicht erst seit Rio Reisers „König von Deutschland“ spielen Menschen mit dem Gedanken, wie sie anstelle der Politiker gehandelt hätten. Natürlich hat nicht jeder die Zeit und den Ehrgeiz, um eine Wahlkampagne zu starten oder den schweren Aufstieg durch einen Parteiapparat zu bewältigen, doch wer sich trotzdem danach sehnt, ein Land nach seinen Vorstellungen zu gestalten, wird in der Welt der Computerspiele fündig.

Sogenannte Globalstrategiespiele können sowohl in der Vergangenheit die großen Schlachten der Menschheitsgeschichte als auch in der Zukunft die Erforschung und Besiedelung des Weltalls simulieren. Oftmals üben die Kriege einen besonderen Reiz aus, so daß wie bei der in der Epoche des Zweiten Weltkriegs spielenden „Hearts of Iron“-Reihe die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen nur eine Nebenrolle spielen. Im Gegensatz dazu steht die „Victoria“-Reihe, die den Spieler durch die Zeit von 1836 bis 1936 führt.

Während bis zum Ersten Weltkrieg die meisten militärischen Konflikte der Großmächte nur begrenzte Ausmaße hatten, mußten Staatsmänner wie Bismarck Industrialisierung, wissenschaftlichen Fortschritt, gesellschaftliche Umwälzungen, Kolonialisierung und das diplomatische Parkett meistern. Zudem fallen das Aufblühen der Nationalstaaten und die Einigungen Deutschlands und Italiens in dieses Zeitfenster, weshalb sich die Victoria-Spiele mit diesem Alleinstellungsmerkmal bis heute großer Beliebtheit erfreuen.

Kolonialismus und Frauenrechte werden angesprochen

Der bisher letzte Teil der Reihe, Victoria 2, implementiert die ökonomische Seite dieser Epoche durch ein kompliziertes System von Angebot und Nachfrage für die einzelnen Einwohner, so daß das Spiel scherzhaft als Makroökonomiesimulator bezeichnet wurde. Indem neue Technologien erforscht werden, kleinere Staaten der eigenen Wirtschaftssphäre hinzugefügt werden und verläßliche Allianzen jede militärische Herausforderung schon im Keim ersticken, kann der Spieler zur dominanten Großmacht aufsteigen, ohne jemals einen Weltkrieg ausfechten zu müssen.

Fast elf Jahre nach der Veröffentlichung von Victoria 2 verkündete der schwedische Spieleentwickler Paradox nun, daß die Fortsetzung Victoria 3 in Arbeit sei. Viele Anhänger hatten nach so langer Wartezeit bereits die Hoffnung aufgegeben, so daß Scherze über das Nichterscheinen von Victoria 3 schon längst zu Memes geworden waren, während sich Hobby-Programmierer damit beschäftigten, durch Modifikationen dem veralteten Vorgängerspiel neue Elemente hinzuzufügen. Hierdurch konnte beispielsweise eingestellt werden, wie stark sich das Spielgeschehen an der realen Geschichte orientieren soll: von einer engen Schablone, die bei den tatsächlichen Weltkriegsfronten endet; bis zu deutlich phantasievolleren Ereignissen wie einem vereinten skandinavischen Königreich oder bulgarischen Überseekolonien ist alles möglich.

Doch wie werden sich die gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart auf das neue Victoria 3 auswirken? Immerhin beinhaltet diese Epoche den amerikanischen Bürgerkrieg, Revolutionen, erste feministische Kämpfe und den kolonialen Wettlauf um Afrika – BLM und andere „woke“ Gruppierungen dürften hierdurch schnell „getriggert“ werden. Bisher ist über das neue Spiel bekannt, daß es immer noch eine Unterscheidung zwischen westlichen und nichtwestlichen Nationen geben wird, wobei letztere aber nicht mehr als „unzivilisierte“ Nationen bezeichnet werden sollen. Innenpolitisch wird es eine Art „White privilege“-Diskriminierungsmechanismus geben, der zum Beispiel englischen Immigranten in den USA bevorzugten Zugang zu besseren Berufen gibt. Interessanterweise besteht eine große Neuerung darin, die innenpolitische Dynamik der Staaten durch widerstrebende Interessengruppen zu modellieren, bei denen der Staat Legitimität gewinnen und verlieren kann, was im Ernstfall bis zum Bürgerkrieg führen kann. 

Da den Interessengruppen auch Anführer zugeordnet sind, ist zu erwarten, daß bekannte historische Personen dieser Epoche im Spiel auftreten werden, die nicht nur „alte weiße Männer“, sondern auch tatsächliche Faschisten, aber auch Kommunisten aufwies. Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es zudem Aufstände gegen die europäischen Kolonialherren. Erste Trailer zeigen rote Fahnen, britische Suffragetten und erhobene schwarze Fäuste. 

Im 2016 erschienenen Hearts of Iron IV hatte Paradox wiederum keine Probleme damit, in einer ähnlichen Spielmechanik zahlreiche NSDAP-Größen als Charaktere einzubinden. Wer kann schon garantieren, daß sich der Zorn der Gutmenschen nicht auf Victoria 3 richten wird? Sollten die Entwickler vor der Cancel Culture einknicken, so kann man zumindest sicher sein, daß die Hobby-Programmierer sich das Spiel mit ihren eigenen Modifikationen zurückerobern werden.

Foto: Trailer-Ausschnitt: Protestbilder von Schwarzen, Sozialisten und Frauenrechtsaktivisten