© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Ein Wort zur Realpolitik
Fordert das Mögliche!
Karlheinz Weißmann

Daß die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ein letzter Stimmungstest vor der Bundestagswahl war, wird niemand im Ernst behaupten. Zu unterschiedlich sind die Verhältnisse: die Union zu stark, ihr Kandidat – Reiner Haseloff – zu überzeugend, die AfD zu stark, weil im Land viel tiefer verankert als im nationalen Rahmen, die Grünen zu schwach, die FDP wahrscheinlich auch, immerhin: die Linke da, wo sie hingehört. Erledigt sind mit wohligem Schauder ausgemalte Bilder vom Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD. Aber in Erinnerung bleiben wird die sachliche Feststellung eines ZDF-Redakteurs von der „konservativen Mehrheit“ in Sachsen-Anhalt, die für eine Regierungsbildung mit komfortabler Basis ausreiche.

Indes: Ein schwarz-blaues Bündnis erscheint heute als Utopie. Das hat verschiedene Ursachen. Die wichtigste: die Entschlossenheit, mit der die Unionsspitze am Ziel der vollständigen Ausschaltung der Alternative für Deutschland festhält und zum Erreichen dieses Zwecks bereit ist, jede andere Option zu akzeptieren, selbst die Duldung einer postkommunistisch geführten Minderheitsregierung in Thüringen.

Fragt man nach dem rationalen Kern dieses Verhaltens, ist die Antwort leicht gegeben: Machterhalt. In Kenia-, Jamaika-, Deutschland-Koalitionen und in allen denkbaren Zweiergruppen bleibt die CDU Mitspieler. Mitspieler eines Spiels, dessen Regeln sie kennt und das ihr Aussicht auf Gewinn eröffnet: Posten, Pfründen, Einflußmöglichkeiten. Sie agiert entsprechend dem „Ausgangspunkt aller politischen Erkenntnis“: „daß das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das Gesetz der Schwere über die Körperwelt“. Was bedeutet: „daß die Macht allein es ist, welche herrschen kann. Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt.“

Die Sätze stammen aus einem zuerst 1853 erschienenen Buch. Was nichts gegen ihre Aktualität besagt. Der Verfasser war Ernst Ludwig von Rochau, revolutionärer Linker, dann 48er, dann desillusionierter Liberaler, dann Parteigänger Bismarcks. Der Titel seines Werkes: „Realpolitik“. Der Begriff hat in der letzten Zeit eine gewisse Renaissance erlebt. Parallel dazu verlor der Slogan „Seid vernünftig – fordert das Unmögliche!“ viel von seinem Charme. Heute will jedermann „Realist“ sein, nimmt für sich in Anspruch, auf der Basis der Fakten zu argumentieren oder gleich der Wissenschaft „zu folgen“ (Greta Thunberg). Daß solche Behauptungen in deutlicher Spannung zu anderen umlaufenden Ideen stehen – „Alles ist relativ“ oder „Erfindung“ oder „Konstruktion“ – kann hier außerhalb der Betrachtung bleiben. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, daß in der Gegenwart auch politische Narren in Anspruch nehmen, Realisten zu sein.

Das zwingt zur Klärung der Frage, was die Wirklichkeit der Politik ausmacht. Naheliegend ist die Antwort: die Nutzung jeder Möglichkeit zu Machtgewinn und Machterhalt, die Abwehr von Machtverlust. Deutlich wird das an der Tagespolitik, die der „Opportunismus“ bestimmt, weil kein Akteur darauf verzichten kann, „Gelegenheiten“ zu nutzen.

Allerdings ist Tagespolitik nicht die Sache selbst. Politik geht nicht auf im Klein-Klein des exekutiven, parlamentarischen oder administrativen Geschehens, im Aushandeln von Kompromissen und dem Spinnen von Intrigen. Denn wie zum Wesen des Menschen gehört, ein „politisches Tier“ zu sein, gehört zum Wesen der Politik, daß sie ein Ziel haben muß, das über sie selbst hinausweist: dem Gemeinwesen Dauer zu verleihen, durch Frieden im Inneren und Sicherheit nach außen.

Die Geschichte lehrt, daß die Zahl der Wege beschränkt ist, auf denen diese Ziele erreicht werden können. Die Universität Oxford hat unlängst eine Studie veröffentlicht, die 60 Kulturen – verteilt auf alle Kontinente und Zeiten – unter dem Gesichtspunkt verglichen hat, welche ethischen Normen sie als verbindlich, weil für den eigenen Erhalt ausschlaggebend, betrachteten. Es sind überraschenderweise nur sieben Werte, die die Grundlage eines universalen moralischen Codes bilden: Tapferkeit, Loyalität gegenüber der Familie, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit, Respekt vor den Autoritäten, gerechte Verteilung der lebensnotwendigen Güter und Achtung fremden Eigentums.

Es spricht viel für die Annahme, daß die heutzutage und hierzulande übliche Geringschätzung dieser Vorgaben nichts mit Fortschritt zu tun hat, viel mit Dekadenz. Denn Mißachtung des Kämpfers und Weichlichkeit, Zersetzung von Ehe und Familie, Antipatriotismus und nationaler Selbsthaß, dreistes Fordern und Schmarotzertum, Verachtung der Vorfahren und Vergötzung der Jugend, Privatisierungswahn und absurde Staatsverschuldung sind Indizien dafür, daß man entscheidende Lektionen vergessen hat, die zum Erfahrungsschatz unserer Spezies gehören.

Wer angesichts dessen den Kurswechsel will, wird auf massiven Widerstand treffen. Er bedarf deshalb einer robusten politischen Einheit. Die muß über Repräsentanten verfügen, die nicht nur Willenskraft und Intelligenz, das gebotene Maß an Nüchternheit wie Leidenschaft mitbringen, sondern auch jenen Takt, der es erlaubt, das schwer Faßbare, den Ton der Zeit, die herrschende Atmosphäre, die Kollektivstimmung zu erfassen.

Elisabeth Noelle sprach vom „Meinungsklima“ und wies darauf hin, daß im Vorfeld politischer Veränderungen ein „doppeltes Meinungsklima“ herrscht. Damit bezeichnete sie die Lage, in der der gesellschaftliche Konsens zwar unbestritten scheint, aber unter der glatten Oberfläche die Unruhe wächst. Der Groll kann sich aber nur hier und da Luft verschaffen, die Verhältnisse selbst vermag er nicht in Frage zu stellen.

Als klassisches Beispiel kann man die Situation der Bundesrepublik am Ende der 1960er Jahre betrachten. Der „CDU-Staat“ wirkte allmächtig, der Bürger spießig, der Nachwuchs angepaßt, das Leistungsprinzip so unbestritten wie der Kampf gegen den Kommunismus oder für die Wiedervereinigung. Dann wurde über Nacht alles anders: die SPD im Bündnis mit der FDP an der Regierung, das männliche Kopfhaar unordentlich lang, die weiblichen Röcke unzüchtig kurz, die Jungen wollten gammeln, tabulosen Sex und/oder die Revolution, in jedem Fall lieber rot als tot sein, und um Deutschland scherten sich nur noch die „Kalten Krieger“.

Die heutige Situation ist von der damaligen denkbar verschieden. Aber eine strukturelle Ähnlichkeit besteht darin, daß es wieder ein „doppeltes Meinungsklima“ gibt. Denn während die tonangebenden Kreise dafür sorgen, daß das Land immer offener, bunter und entspannter wirkt, mehren sich in der Bevölkerung Zweifel am „besten Deutschland, das wir je hatten“ (Frank-Walter Steinmeier). Der Verfall der Inneren Sicherheit und die unkontrollierte Masseneinwanderung, die Dysfunktion des Staates, der vor seinen Kernaufgaben versagt und sich statt dessen auf die Umerziehung konzentriert, der wachsende Einfluß globaler Konzerne und die exorbitante Verschuldung der öffentlichen Hand, die Ausbeutung des Mittelstandes und das gefühllose „Abhängen“ ganzer sozialer Gruppen, die Demontage der nationalen Identität bei gleichzeitiger Förderung unproduktiver Minderheiten, die lautstark „Anerkennung“ und „Respekt“ verlangen, das alles trägt zu einer Atmosphäre des Widerwillens und der Verachtung bei.

Auch in diesem Fall genügt Verdrossenheit nicht. Soll sie Wirkung entfalten, bedarf sie der Zusammenfassung und der Mobilisierung. Gelingt die, werden die Etablierten den neuen Akteur mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen. Denn es tritt nicht nur ein weiterer Konkurrent um die Macht auf, sondern jemand, der willens ist, den „Untergrund in Bewegung“ zu setzen, wie Bismarck solches Vorgehen genannt hat. Der Haß, der der AfD entgegenschlägt, die Versuche der Einschüchterung, die Schikanen von seiten der Behörden wie der „Zivilgesellschaft“ haben ganz wesentlich damit zu tun.

Es gibt natürlich die Naiven und die Dummen und die zahllosen Mitläufer im „Kampf gegen Rechts“. Aber die nüchternen Beobachter des Geschehens, die keine Minute an den braunen Popanz glauben, den man der Öffentlichkeit vorstellt, fürchten nur, daß hier der Kern einer Opposition entsteht, die sich weder täuschen noch korrumpieren läßt.

Die Schärfe des Konflikts erklärt sich aus dem, was Rochau das „dynamische Grundgesetz“ der Politik genannt hat: „Die jeweils herrschenden gesellschaftlichen Kräfte, vermöge der Selbstsucht, die allem Lebendigen innewohnt, fürchten jeden neuen Mitbewerber, der sich einen Wirkungskreis im Staate schaffen will, und so geschieht es denn, daß die junge Kraft selten oder nie ohne schweren Kampf zur politischen Anerkennung gelangt. Je starrer und spröder die staatliche Form, desto höher steigert sich die Anstrengung der neuen Kraft, welche sich innerhalb derselben Raum schaffen will, und desto heftiger ist die Wirkung des endlichen Durchbruchs.“

Damit ist selbstverständlich nur eine Möglichkeit bezeichnet, keine Gewißheit. In zahllosen Fällen kam die „junge Kraft“ nicht aus den Windeln, ging an Selbstüberschätzung zugrunde, blieb unberaten, scheiterte an der Ruchlosigkeit des Gegners. Aber die Möglichkeit des Scheiterns gehört zum Wesen der Politik wie jedes menschlichen Handelns. Was bedeutet, daß ihr nicht ausgewichen werden kann. Letztlich geht es um die Entscheidung, ob es die Sache – der Bestand der Gemeinschaft – wert ist oder nicht, ob man Politik erleiden oder ob man sie gestalten will, und wenn man sie gestalten will, ob man fähig ist, den Alptraum des Gegners Wirklichkeit werden zu lassen, etwa indem man Mehrheitsverhältnisse zum Kippen bringt.






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitete von 1982 bis 2020 im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­sachsen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Nation als die ausschlaggebende Schutz- und Schicksalsgemeinschaft („Des Glückes Unterpfand“, JF 41/20).

Foto: Doppeltes Meinungsklima: Während die tonangebenden Kreise dafür sorgen, daß das Land immer offener, bunter und entspannter wirkt, mehren sich im Volke Zweifel am „besten Deutschland, das wir je hatten“