© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Alternative zu Ranke
Kleine Leute statt großer Männer: Ein Porträt des Kulturhistorikers Karl Lamprecht
Oliver Busch

In vier Jahrzehnten Bonner Republik gelang es der Historikerzunft nur zweimal, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Zuerst in den frühen 1960ern mit der „Fischer-Kontroverse“, ausgelöst durch die geschichtsklitternde These des Hamburger Zeithistorikers Fritz Fischer, eines ehemaligen völkischen Aktivisten und NS-Karrieristen, dem deutschen Kaiserreich sei die Hauptschuld an der Entstehung des Ersten Weltkriegs anzulasten. Ein Vierteljahrhundert später, im Juni 1986, folgte ein zweiter Ausbruch aus dem Elfenbeinturm, in Form hysterischer Reaktionen auf Ernst Noltes kühle Evidenz emittierende Behauptung eines „kausalen Nexus“ zwischen dem bolschewistischen Klassenmord und dem nationalsozialistischen Rassenmord an den Juden Europas. 

Beide Aufregungen nehmen sich indes wie Stürme im Wasserglas aus im Vergleich mit dem sich von 1893 bis 1899 hinziehenden „Methoden-Streit“, der sogenannten „Lamprecht-Kontroverse“. Benannt nach dem Leipziger Mandarin Karl Lamprecht, den sein Biograph Roger Chickering (University of Oregon) mit guten Gründen für den „berühmtesten und interessantesten Historiker Deutschlands in der Wilhelminischen Ära“ hält. Es hat sehr lange gedauert, bis seine 1993 in den USA veröffentlichte, quellensatte Arbeit über den Bahnbrecher der „Kulturgeschichte“ jetzt in deutscher Übersetzung erscheinen konnte. Und doch hätte ein günstigerer Zeitpunkt kaum gefunden werden können. Bereits 1982, als die Geschichte der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik kaum den Rang eines Orchideenfaches einnahm, leitete Luise Schorn-Schütte ihre einschlägige Monographie über „Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik“ mit der knappen Feststellung ein: „Karl Lamprecht findet wieder Interesse.“ Im Westen wohlgemerkt, während er in der DDR nie ähnlich vergessen war. Davon zeugte zuletzt die kurz vor dem Abtritt des SED-Regimes 1988 im Leipziger Reclam Verlag unter dem Titel „Alternative zu Ranke“ erschienene Anthologie seiner Schriften zur Geschichtstheorie.

Nach dem Mauerfall ist der Kurswert des, wie ihn Bewunderer kräftig übertreibend rühmten, „sächsischen Max Webers“ kontinuierlich gestiegen. Chickering markiert drei Themenfelder, auf denen sich seitdem die „Lamprecht-Renaissance“ vollzogen hat. Erstens ist da die ungebrochene Konjunktur der „Messer & Gabel-Ethnologie“, wie das Historiker-Establishment über die „Geschichte von unten“ einst abschätzig zu urteilen pflegte. Also die Alltags- und Mentalitätsgeschichte, die Erforschung der „Kleinen Leute“ anstelle der „Großen Männer“, die zu Lasten der „Haupt- und Staatsaktionen“ gehende Vergegenwärtigung von Mode und Tischsitten, der nicht erst von Judith Butler entdeckten „Geschlechterverhältnisse“, der Kindererziehung und der Einkommensverhältnisse. Mit all dem, was Lamprecht unter dem Dach seiner 19bändigen Kulturgeschichte („Deutsche Geschichte“, 1890–1909) vereint, stößt sein Werk auf starkes Interesse in einer Disziplin, die heute lieber dem Privatleben früherer Generationen als deren politischem Dasein nachspürt. Und in dem Maß, wie die Forschung den nationalen Rahmen verläßt, um sich im Mikrokosmos der Provinz umzutun, steht auch hier Lamprecht als Pionier der rheinischen und sächsischen Landesgeschichte Pate. 

Zweitens profitiert Lamprecht als Repräsentant der wilhelminischen Bildungselite vom fast schlagartig mit der Wiedervereinigung und der Öffnung der mitteldeutschen Archive einsetzenden Aufschwung der Wissenschafts- und Hochschulgeschichte sowie des Genres der Gelehrtenbiographie. Und drittens genießt der Begründer des Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte heute im Zuge der zweiten Globalisierung hohe Wertschätzung als Vorreiter der „Globalgeschichte“.

Ein üppiger Nachlaß erlaubt es Chickering, den Lebensweg des in Schulpforta zum „ganzheitlich gebildeten Individuum“ herangezogenen Pastorensohns akribisch zu rekonstruieren, um in dieser Vita exemplarisch die Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums, seines weltweit als vorbildlich geltenden Schul- und Hochschulwesens zu spiegeln und zugleich das „goldene Zeitalter“ einer an allen 21 Universitäten des Reiches expandierenden Geschichtswissenschaft so detailliert zu schildern wie den stetig zunehmenden Einfluß, den auf Teilhabe an „kultureller Hegemonie“ erpichte Historiker vom Kaliber Lamprechts gewannen. Diese breit malenden Kapitel zu studieren, sollte niemand versäumen, der ein heute märchenhaft anmutendes Berufsethos, das Lebensgefühl und das Weltbild der akademischen Führungsschicht des Kaiserreichs als faszinierenden Kontrast zur bildungsfernen bundesdeutschen Bologna-Tristesse goutieren möchte. 

Handwerkliche Fehler und Beifall von der falschen Seite

Aber ins Zentrum seines kompendiösen Werkes stellt Chickering doch die zwischen 1893 und 1899 ausgefochtene Titanenschlacht des legendären „Methodenstreits“, der um die bis heute aktuelle Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen von Geschichtsschreibung rang. Er entzündete sich an den ersten Bänden von Lamprechts kulturhistorisch fundierter „Deutscher Geschichte“. Von Anfang an geriet der genialische und charismatische Gelehrte, der das Forschungsparadigma einer „kollektivistischen Kulturgeschichte“ gegen den herrschenden, von Ranke etablierten Standard der „individualistischen Personengeschichte“ durchsetzen wollte, dabei in die Defensive gegen die fast geschlossene Front seiner Gegner. Denen er unterlag, nicht weil die Kollegen in erdrückender Übermacht waren. Sondern weil dem in atemberaubenden Tempo produzierenden Ordinarius handwerkliche Fehler en masse unterliefen, man ihm schier unfaßbar widersprüchliche Argumentationen nachwies und die noch ohne Plagiatssoftware vorgenommene Durchleuchtung seines Lebenswerks recht großzügige, nicht kenntlich gemachte „Anleihen“ bei der an Ranke orientierten Konkurrenz sowie beim Altmeister selbst zutage förderte. Noch verheerender wirkte sich Lamprechts methodologische Konfusion aus, da er die „kollektiven Kräfte“, die in seiner Konzeption den Geschichtsprozeß anstelle „großer Persönlichkeiten, ewiger Ideen und sittlicher Gesetze“ (Heinrich von Treitschke) bestimmen sollten, nicht objektivierte. 

Den zumindest vorläufigen Todesstoß bekam die heute so florierende Kulturgeschichte aber durch „Beifall von der falschen Seite“. Franz Mehring, 1918 Mitbegründer der KPD, lobte den „bürgerlichen Geschichtsschreiber“ Lamprecht dafür, sich auf den „Boden des historischen Materialismus“ gestellt zu haben. Und bestätigte damit den Verdacht der Zunftgenossen, aus einer sozialhistorisch basierten, staatsfernen Kulturgeschichte „könnten Socialisten leicht Capital schlagen“ (Georg von Below).

Roger Chickering: Karl Lamprecht. Das Leben eines deutschen Historikers (1856–1915). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021, gebunden, 689 Seiten, Abbildungen, 89 Euro