© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Ein Hoffnungsträger wird zum Trauma
Vor dreißig Jahren wurde Boris Jelzin zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Der Abwickler der Sowjetunion hinterließ allerdings ein ruiniertes und verarmtes Land
Jürgen W. Schmidt

Erinnert man sich an Boris Jelzin in Deutschland, fällt einem sofort das Bild ein, wie der russische Präsident anläßlich der Feierlichkeiten zum Truppenabzug betrunken ein Militärorchester zu dirigieren versuchte. Die Russen hingegen haben die letzten Jahre der Jelzin-Präsidentschaft nicht vergessen, als die russische Bevölkerung flächendeckend verarmte, Not und Elend litt und 1998 der Staatsbankrott drohte, sich auf der anderen Seite windige Figuren mit teilweise kriminellen Machenschaften das frühere Volkseigentum unter den Nagel risssen und innerhalb weniger Jahre zu milliardenschweren Oligarchen aufstiegen.  

Doch hatte Jelzin vor 1991 auch gute Seiten aufzuweisen, sonst hätte man ihn nicht 1991 als Hoffungsträger zum ersten demokratischen russischen Staatsoberhaupt gemacht. Der 1931 im Ural geborene Jelzin entstammte einer armen Bauernfamilie. Vor lauter Not zog die Familie in die Stadt und Jelzins Vater wurde Bauarbeiter. Auch der junge Boris Jelzin ging ins Bauwesen, macht seinen Ingenieurabschluß und leitet alsbald das Wohnungsbaukombinat von Swerdlowsk. Bewußt setzt Jelzin ab 1968 auf eine Parteikarriere und war bereits sieben Jahre später einer der mächtigen kommunistischen Regionalfürsten, nämlich 1. Sekretär des Parteigebietskomitees von Swerdlowsk. 

Als der neue KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow 1985 seine neue Mannschaft sammelt, gehört dazu auch der energische Boris Jelzin. Dieser macht nunmehr in Moskau eine Blitzkarriere in die höchsten Ränge der Partei. Er wird ZK-Sekretär, Kandidat des Politbüros und Erster Sekretär des wichtigen Moskauer Stadtparteikomitees. Jelzin tritt nunmehr im Rahmen der Gorbatschowschen Perestroika als Kämpfer gegen Bürokratie, Korruption und althergebrachte Privilegien auf und sucht nicht selten Gorbatschow dabei links zu überholen. Den fundamentalistisch gesinnten linken Kräften in der Kommunistischen Partei, welche sich um Gorbatschows Zweiten Sekretär Jegor Ligatschow scharen, ist Jelzin natürlich ein Dorn im Auge. 

Doch der Machtkampf wird nicht mehr wie früher versteckt ausgetragen, sondern in aller Öffentlichkeit. Verwundert reiben sich die dieses Schauspiels noch ungewohnten Sowjetbürger die Augen, als Jelzin sich auf einer im Fernsehen übertragenen ZK-Tagung den Weg zum Rednerpult förmlich freikämpfen muß und eine kämpferische Rede hält. Neben einer grundlegenden Reorganisation der zentralen Parteiorgane fordert Jelzin nichts weniger als detaillierte Aufklärung über die Verwendung der finanziellen Mittel innerhalb der KPdSU. Das war bis dato eines der ganz großen Geheimnisse in der Sowjetunion und Jelzin war durch seine mutige Forderung urplötzlich der Mann des Tages. 

Gorbatschow, welcher um die linken Kräfte in der Partei nicht zu verprellen, nunmehr anfängt leisezutreten, läßt Jelzin sogleich aus allen hohen Parteifunkionen ablösen. Einstweilen wird der Bauingenieur Jelzin auf den Posten des stellvertretenden Bauministers abgeschoben. Doch die bewußte Jelzin-Rede wird im Samisdat vervielfältigt und in Moskau für fünf Rubel in allen Metrostationen angeboten und auch gern gekauft. Jelzin ist nunmehr ein russischer Hoffnungsträger, und durch seine populistischen Angriffe auf das Parteiestablishment ist der ethnische Russe zugleich einer der Anwärter auf die höchsten Staatsfunktionen im neuen russischen Staat. Seine Popularität steigt weiter, als der Delegierte Jelzin auf dem XXVIII. Parteitag der KPdSU am 12. Juli 1990 unvermittelt seinen Austritt aus der Partei verkündet. Als sich nunmehr der Zerfall der kommunistisch regierten Sowjetunion ankündigt und die einst große persönliche Autorität Gorbatschows sich im jähen Abschwung befindet, ist das die große Stunde des zuvor von Gorbatschow kaltgestellten Boris Jelzin. 

Maßgebliche Rolle bei der Niederschlagung des Putsches

Nach insgesamt drei nur knapp verlaufenen Wahlgängen wird er schließlich am 12. Juni 1991 mit 57,3 Prozent der Stimmen zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Kurz darauf hat Jelzin seine politische Sternstunde, als er maßgeblich durch seine Popularität und Festigkeit den Augustputsch 1991 gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow binnen weniger Tage zum Scheitern bringt. Unvergessen ist die Szene, als Jelzin während einer Demonstration vor dem Parlament auf einen Panzer klettert und vor der Menschenmenge die Rückkehr Gorbatschows fordert und den Umsturz der reaktionären Kommunisten verurteilt. 

Jelzin löst nach dem gescheiterten Putsch die KPdSU auf und ist nach der endgültigen politischen Kaltstellung des Ex-Sowjetpräsidenten Gorbatschow nunmehr das mächtige Staatsoberhaupt des größten Nachfolgestaates der einstigen Sowjetunion. In den Folgejahren erweist sich Jelzin als russischer Staatspräsident allerdings als ein unglücklicher Politiker. Die russische Wirtschaft versinkt im Chaos, im Kaukasus muß er separatistische und islamistische Tendenzen bekämpfen und die finanzielle Krise von 1998 führt beinahe zum Staatsbankrott Rußlands. Jelzins letzte Entscheidung ist, gegen Zusicherung seiner persönlichen Sicherheit und der seiner Familie, die Macht in die Hände des aufstrebenden Wladimir Putin zu übergeben. 

Der Machtwechsel verläuft reibungslos und unblutig. Am 23. April 2007 verstirbt der schwerkranke Boris Jelzin und wird feierlich auf dem elitären Nowodewitschi-Friedhof in Moskau beigesetzt. Obwohl Jelzin anfangs ein großer Hoffnungsträger war, denken die Russen heute nur mit Grausen an seine Regierungsjahre zurück.