© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Den Eliten die Leviten lesen
Der Publizist Klaus-Rüdiger Mai liefert eine provokante Analyse gesellschaftlicher Irrwege und weist auf Alternativen hin
Josef Kraus

Die Zukunft gestalten wir! Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden.“ Ein solcher Buchtitel erregt Neugier. Man fragt zurück: Wer ist mit „Wir“ gemeint? Nun, es ist damit der Bürger, der Souverän gemeint. Er soll aufhören, sich als Empfänger von Befehlen der politischen und medialen „Elite“ zu verstehen. Denn er ist schließlich Auftraggeber der Regierenden. Das „Wir“ ist damit jeder einzelne deutsche Michel.

Aber der Reihe nach: Dieses Buch ist kein Buch der Einschlafhilfe hinein in Träume von einer nur noch „gerechten“ Welt. Im Gegenteil. Denn was der Klaus-Rüdiger Mai auftischt, wirkt nach, und es soll, ja es muß nachwirken. Das gelingt dem Autor eindrucksvoll. Der promovierte Germanist, Historiker und Philosoph ist ein scharfer Analytiker. Er hat ja auch manch spannende Biographie verfaßt: über Dürer, Luther (JF 23/21), Gutenberg, die Bachs, Leonardo oder Papst Benedikt XVI. Nun hat er dieses höchst politische Buch vorgelegt. Es ist ein sehr sachliches, aber auch sehr persönliches Buch, wenn Mai seine Leser direkt mit „Sie/Ihre“ anspricht. Und es ist auch dieses neue Buch eine Streitschrift, mit der der Autor einen Beitrag leistet, damit politischer Streit in Deutschland wieder Substanz, Intellektualität und abseits emotionalisierender Assoziationen begriffliche Schärfe gewinnen kann. Und es ist ein Buch der Motivation, auf daß sich gerade Bildungsbürger nicht noch mehr biedermeierlich in die innere Emigration flüchten.

Mai sorgt sich wie viele Millionen (schweigende) Deutsche um Deutschland. Millionen schlucken diese Sorgen herunter, viele wissen nicht mehr, welche Partei sie wählen sollen, ein paar tausend mucken auf. Das war’s dann. Für diese Millionen, hoffentlich für einige tausend, ist dieses Buch ein Sprachrohr. Es sind 232 flott zu lesende Seiten daraus geworden, die sich – unterlegt mit 201 Quellen und Verweisen – fast hälftig in die beiden Kapitel „Was ist geschehen?“ und „Was ist notwendig?“ unterteilen, also in einen diagnostisch-analytischen und einen therapeutisch-programmatischen Teil. 

Mai legt die Finger in Wunden, die der brav-regierungsamtliche Mainstream mit Placebos oder einlullend behandelt. Das Buch ist ein großes Plädoyer für einen aufgeklärten Bürger, der sich gegen herablassende „neue Herrschaft“, diesmal linke Gouvernantenhaftigkeit, zur Wehr setzen möge, dem der deutsche Untertanengeist widerstrebe und der den in Deutschland leider weitgehend verschwundenen klassischen Liberalismus zum Leben erwecken sollte. 

Der Autor schont niemanden: keine „Ökonomin und Gesellschaftswissenschaftlerin“ Merkel, keine CDU und keine SPD mit ihrer „Sozialalchemie“, nicht die Grünen mit ihren „Great Reset“-Visionen, nicht die Gutmenschen mit ihrer erhaben demonstrierten Postnationalität, nicht das digital entfremdete Juste milieu mit seiner existentiellen Langeweile, nicht die üppig alimentierten NGOs, nicht die Islam- und Gender-Lobby, nicht das „Räte“-System der „Expertokratie“. 

Vor allem sorgt sich Mai um ein heraufziehendes destruktives „ökosozialistisches Kommandosystem“, mit dem die Soziale Marktwirtschaft verschwindet und Deutschland in eine gigantische De-Industrialisierung schlittert. Mai hält dabei gerade den Linken den Spiegel vor, denn diese müßten sich fragen, ob sie denn überhaupt noch links genug seien, nachdem Merkel im Zuge ihrer „asymmetrischen Demobilisierung“ der CDU fast alles Linke einverleibt hat.

Mai bleibt nicht bei der Diagnose. Er zeigt Wege auf, wie wir aus den regierungsamtlich verfolgten Irrwegen herauskommen. Der Autor ruft dazu Werte in Erinnerung, die längst tabuisiert, wenn nicht gar übel beleumundet wurden: Nation, Nationalstaat. Die Linke einschließlich Merkel, so Mai, würden die Bedeutung und damit die anthropologische Dimension von Nation und Nationalstaat nicht verstehen und dagegen die „Große Transformation“ à la Davos mit ihrem proletarischen Internationalismus setzen. 

Abgeordnete sollten künftig eine vernünftige Ausbildung haben

Mai sehnt Plebiszite herbei. Immerhin schränkt das Grundgesetz ja ein, daß die Parteien an der politischen Willensbildung „mitwirken“, sie also nicht monopolistisch betreiben. Mai wünscht eine Verkleinerung des Bundestages und ein einfaches Mehrheitswahlrecht, so daß der einzelne Abgeordnete für sein Handeln individuell Verantwortung tragen muß. Zudem verlangt Mai, daß ein Abgeordneter einen Berufs- oder Studienabschluß vorweisen können müsse, mindestens fünf Jahre Berufserfahrung mitbringen müsse und die Amtszeit eines Bundeskanzlers oder eines Ministerpräsidenten auf zwei Legislaturperioden begrenzt werde. Eine doppelte Staatsbürgerschaft hält Mai für eine Zweiklassenstaatsbürgerschaft. Radikal wird Mai, wenn es um die EU und um den Euro geht. Letzteren möchte er abschaffen, weil via EZB nur andere Staaten finanziert würden. Die schier halbstaatlichen NGOs möchte Mai „trockengelegt“ wissen.

Diese wenigen hier aufgegriffenen Gedanken sollen zeigen, daß dieser Autor einiges auf Lager hat, über das es in der politischen „Elite“ und vor allem beim Souverän nachzudenken gilt. Das Buch ist dafür Augenöffner und Wegweiser zugleich. 

Klaus-Rüdiger Mai: Die Zukunft gestalten wir! Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden. Langen-Müller Verlag, München 2021, gebunden, 240 Seiten, 20 Euro