© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Alt und sterblich
Mortalität während der Pandemie bleibt europaweit im Bereich des Erwarteten
Roland Bänsch / Rudolf Jörres

Zahlen ordnen die Welt. Doch wie das Divi oder die Statistik des RKI zeigen, können falsche Zahlen eine ganze Gesellschaft in die Irre führen. Nicht nur bei der Belegung der Krankenhäuser wurde ein übertrieben angespanntes Bild gezeichnet, auch die Auswertung der Sterbefälle erfolgte oft in einer fragwürdigen Weise. Im Zuge der parlamentarisch ausgerufenen Corona-Notlage begann das Statistische Bundesamt (destatis) im dritten Quartal 2020 mit einer Sonderauswertung der vorläufigen wöchentlichen Sterbezahlen. Geklärt werden sollte, ob und in welchem Umfang eine Übersterblichkeit durch Covid-19 zu verzeichnen ist.

Den Fokus auf die Sterbefälle zu legen ist richtig, weil nur diese verläßliche und vergleichbare Daten bieten, die auch Basis für methodologisch robuste Analysen sein können. Die Frage der Übersterblichkeit ist nicht einfach zu beantworten, denn die jährlichen Sterbezahlen unterliegen Schwankungen in der Größenordnung von zwei bis drei Prozent um einen steigenden Trend, getrieben durch die Alterung der Gesellschaft. Der mittlere Zuwachs liegt derzeit für Deutschland bei etwa 13.000 Sterbefällen pro Jahr. Bei sonst unveränderten Randbedingungen ist durch fortschreitende Alterung der Gesellschaft für Deutschland in zehn Jahren mit etwa 150.000 Sterbefällen mehr als heute zu rechnen.

Vergleichbare Zahlen sind bis in die 1990er Jahre verfügbar. Wir analysieren diese für „Winterjahre“, das heißt von KW 27 bis KW 26 des Folgejahres. Denn in Gesellschaften mit gutem Gesundheitssystem und relativ wenigen Unfalltoten treten Sterbefälle im wesentlichen im hohen Alter und im Winter auf. Tatsächlich zeigen längere Zeitreihen für Deutschland und andere europäische Länder eine zunehmende Verlagerung von Sterbefällen in das 1. Quartal mit einer Spitze im März. Die innerjährliche Verschiebung nimmt dabei weiter zu, so daß relativ weniger Menschen im Sommer und mehr im Winter sterben. Dies ist durch die fortschreitende Alterung der Gesellschaft und die Empfindlichkeit des altersmüden Körpers gegen akute Erkrankungen auch sehr gut erklärbar.

Die Frage nach der Übersterblichkeit kann mit Hilfe des Verlaufs der sogenannten Sterbekoeffizienten beantwortet werden. Damit läßt sich auch ein europäischer Vergleich durchführen. Als Bezugsgröße ist die Gesamtbevölkerung wegen der maßgeblichen Altersstruktur einer Gesellschaft allerdings nicht geeignet. In heutigen Industriegesellschaften liegen die Sterbefälle zu über 90 Prozent in der Altersgruppe der über 60jährigen mit einem Maximum bei den 80- bis 85jährigen. Einen einfachen ersten Überblick und Vergleichsmaßstab erhält man, wenn man den Sterbekoeffizienten für diese Bevölkerungsgruppe bildet. Die Sterberate dieser Alterskohorte wird dabei nur geringfügig überschätzt. Dennoch liefert die Auswertung einen brauchbaren Überblick der langfristigen Entwicklung der Sterblichkeit und der Ereignisse in Zusammenhang mit dem Covid-19-Erreger.

Geringe durchschnittliche Lebenszeit der Deutschen

Zunächst fällt auf, daß alle betrachteten Länder im Jahr 20/21 eine höhere Sterberate als in 19/20 aufzuweisen haben, bis auf Spanien und Schweden. In Schweden pendelt die Sterberate seit gut fünf Jahren um den Wert dieser Betrachtung von etwa 3,5 Prozent, dies gilt auch für die Jahre mit Covid-19. Spanien hingegen hat sich nach der Bodenberührung des Niveaus in 19/20 wieder deutlich entfernt und wird in 20/21 etwa auf dem höheren Niveau von knapp 3,8 Prozent bleiben. Ein Zusammenhang zwischen den jeweiligen Lockdown-Maßnahmen und dem Schutz vor vorzeitigem Sterben läßt sich aus diesem Vergleich nicht ableiten. Schweden ist danach am besten durch die Covid-19-Pandemie gekommen.

Weiterhin fällt auf, daß alle Länder ein lokales Tief für 18/19 aufweisen, was mit dem gleichzeitigen Ausbleiben größerer Infektionswellen erklärt werden kann. Für Deutschland ist festzustellen, daß die Sterblichkeit im ersten Covid-19-Jahr 2019/20 leicht gesunken ist.

Der auffälligste Unterschied zu den Kurven der anderen Länder liegt jedoch darin, daß die Sterberate seit nunmehr 15 Jahren um vier Prozent pendelt und die Kurven aller anderen Länder auch für 2020/21 teilweise deutlich darunter liegen. Hier werden wir schmerzlich daran erinnert, daß die Lebenserwartung von Deutschen um etwa ein bis zwei Jahre geringer ist als in anderen Ländern. Als Gründe dafür werden häufig Ernährung, Armut, geringe Lebenszufriedenheit, belastende Umwelteinflüsse, wenig sportliche Betätigung und Alltagsstreß genannt, ohne daß dies durch konkrete, vergleichende Erhebungen einwandfrei belegt wäre. Auch scheint das zumal recht teure deutsche Gesundheitssystem in den letzten 15 Jahren keine positive Wirkung in der Sterbestatistik hinterlassen zu haben, während in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in anderen Ländern noch signifikante Verbesserungen zu verzeichnen sind.

Das Phänomen könnte teils eine Spätfolge sozialistischer Gesellschafts- und Gesundheitssysteme sein, da lebensverkürzende Risikofaktoren über die Lebenszeit kumulieren. Für diese Vermutung spricht, daß ausnahmslos alle osteuropäischen Länder noch deutlich kürzere Lebenserwartungen aufweisen. Denkbar wären auch lebenszeitverkürzende Umstände in der Altenpflege und bei der Krankenhaushygiene. Eine faktenorientierte Analyse dieser Zusammenhänge wäre geboten und könnte Hilfestellung für eine effizientere Gesundheitspolitik leisten. In derartige laufende Analysen zu investieren würde sowohl Erkenntniswert haben als auch praktisch helfen. 

Die Fehler einer starren Setzung von Prioritäten, welche nicht dem sich verändernden wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen, ließen sich so vermeiden. Abschreckendes Beispiel ist die Lockdown-Politik des letzten Jahres, deren behauptete medizinisch-epidemiologische Vorteile seit Monaten fraglich sind, während die volkswirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und sogar medizinischen Schäden offen zutage liegen.






Dr. Roland Bänsch ist promovierter Dipl.-Ing. des Maschinenbaus und Unternehmensberater.

Dr. Rudolf Jörres leitet die AG „Experimentelle Umweltmedizin“ an der Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München.