© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Zum Geleit
Der Geist ist aus der Flasche
Michael Paulwitz

Die Freiheit hat es nicht immer leicht in Deutschland. Die Presse- und Meinungsfreiheit macht da keine Ausnahme. Die Freiheitsfeinde unserer Tage kennen subtilere Werkzeuge als offene Zensur und brutale Repression. Sie diskreditieren den Gebrauch der Freiheit im Namen von Moral und Sicherheit und werben als Verbündete die gefährlichsten Feinde der Freiheit – diejenigen, die aus Ängstlichkeit, Bequemlichkeit oder Opportunismus freiwillig auf sie verzichten.

Krisenzeiten sind Zeiten der Beschleunigung, in denen Bruchlinien und Störzeichen offen zutage treten, die unter anderen Bedingungen hinter dem Vorhang alltäglicher Routinen und gewohnter Normalität verborgen geblieben wären. Fünfzehn Monate Corona-Politik haben liebgewordene Gewißheiten reihenweise ins Wanken gebracht.

Die Vorstellung, Deutschland sei ein bei aller Bürokratie und Regulierungsbesessenheit doch wohlorganisiertes und effizient funktionierendes Staatswesen, ist zur Reminiszenz für die Geschichtsbücher geworden. Auch jenseits der deutschen Grenzen weicht der Respekt vor deutscher Disziplin und Tüchtigkeit ungläubigem Staunen und Unbehagen über verbissen betriebene Selbstkasteiung und Selbstzerstörung.

Vorschub geleistet hat die Corona-Krise zweifellos einer tiefsitzenden Neigung zu Staatsgläubigkeit und Kadavergehorsam und der verbreiteten fatalen Bereitschaft, Freiheit und selbstbestimmtes Handeln gegen von oben ergangene Versprechen der Sicherheit einzutauschen. Kein Ruhmesblatt auch das willige Umschalten großer Teile der etablierten Medienlandschaft in einen unduldsamen Propagandamodus. Dessen Lautsprecher lassen Fakten und Einschätzungen, die der herrschenden Linie widersprechen, nicht etwa nur unter den Tisch fallen; allzu oft ächten und diskreditieren sie, was ihre Deutungshoheit herausfordert, und ergreifen nur zu gerne die Gelegenheit, Abweichendes zu kriminalisieren und zu pathologisieren.

Man könne in diesem Lande doch alles sagen, man müsse halt nur auch bereit sein, die Konsequenzen dafür zu tragen, lautet eine zynische Ansage von Inhabern der Diskurshoheit, die schon die Wahrnehmung schwindender Meinungsfreiheit als „Verschwörungstheorie“ abtun und selbst daran arbeiten, den Preis der Nicht-Übereinstimmung nach oben zu treiben. 

Und doch ist das Spektrum der Meinungsvielfalt ärmer geworden. Jedenfalls dort, wo mediales und politisches Establishment ein Rückversicherungsbündnis zur gegenseitigen Erhaltung von Macht und Meinungshegemonie eingegangen sind. Dieser Prozeß ist nicht auf die letzten fünfzehn Monate beschränkt und auch nicht auf die letzten fünfzehn Jahre, wenngleich in der bleiernen Merkel-Zeit die Transformation der alten, antitotalitären, rechtsstaatlichen Bundesrepublik Deutschland in einen autoritären Gesinnungsstaat links-grün-„antifaschistischer“ Prägung bedeutend vorangeschritten ist.

Die Symptome sind unübersehbar: Ein mit Zwangsgeldern üppig finanzierter öffentlich-rechtlicher Medienzirkus, dessen Protagonisten – vom Staatskabarettisten bis zum Abendnachrichten- und Talkshow-Moderator – dem Auspfeifen von Oppositionellen mehr Energie widmen als dem kritischen Überwachen und Hinterfragen der Mächtigen; etablierte Presseorgane, die in dieselbe Kerbe schlagen und für ihre Einnahmeverluste Ausgleich vom Staat erwarten, statt das eigene Geschäftsmodell zu hinterfragen. Gendersternchen und ideologisch korrekte Schluckauf-Aussprache nerven derweil Leser und Zuschauer als Leitsignal unerwünschter Indoktrination und Bevormundung. 

Das wohl alarmierendste Symptom sind neue Gesetze, die mit Gummiparagraphen wie „Haß und Hetze“ darauf abzielen, Meinungen und selbst die Verbreitung unerwünschter Tatsachen unter Strafe zu stellen. Nicht zuletzt ist das Teil des Versuchs, die neuen, digitalen und alternativen Medien zu bändigen, die den Etablierten ihre gewohnte Torwächterrolle streitig gemacht haben, und für diesen Zweck die großen Konzerne und Plattformen in die Pflicht zu nehmen.

Die gute Nachricht dabei ist: Auch das wird auf Dauer nicht gelingen. Der Geist ist aus der Flasche und läßt sich so leicht nicht wieder dorthin zurückbringen. Die Meinungsfreiheit ist lebendiger denn je, sie sucht sich nur neue Wege. Und auch kritischer und unabhängiger Journalismus, der den Mächtigen auf die Finger schaut, findet nach wie vor statt – nur halt nicht zwingend dort, wo man sich selbst brüstet, den „Qualitätsjournalismus“ gepachtet zu haben.

Wenn die Mächtigen sich in Meinungs- und Gesinnungskontrolle flüchten, ist das stets auch ein Zeichen von Schwäche. Die Staatsgewalt nutzt jede Krise, von der Euro- über die Migrations- bis zur Corona-Krise, um ihren Zugriff auf Gesellschaft und Wirtschaft auszuweiten, aber sie kann die Ansprüche nicht einlösen, die sie damit verbindet. 

Kritische Beobachter, die diese Widersprüche aufspießen, gibt es noch, in neuen, alternativen wie in etablierten Medien. Gerade weil sie zueinander im Wettbewerb stehen, bleibt nichts auf Dauer unter der Decke. Und das ist gut so. In Zeiten des wachsenden Staatsinterventionismus und der sich verschärfenden gesellschaftlichen Formatierung ist kritischer, unabhängiger Journalismus notwendiger denn je.






Michael Paulwitz, Jahrgang 1965, studierte Geschichte, Altertumswissenschaften, lateinische und slavische Philologie. Er arbeitet als Journalist, Referent und PR-Berater. Für die JUNGE FREIHEIT schreibt er vornehmlich Hintergrund- und Meinungsbeiträge, sehr häufig auch die Blattaufmacher.

Foto: Wolfgang Mattheuer (1927–2004), Ausbruch, Linolstich, Farbkreide, 1994