© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Gut gebrüllt, Löwe!
Asylpolitik: Die vielbeschworene europäische Solidarität sucht man vergebens
Albrecht Rothacher

Der Tanz der Derwische dreht sich bekanntlich im Kreise. So auch der Versuch der EU-Kommission, das Problem der illegalen Einwanderer auf den griechischen Inseln für neue Machtbefugnisse zu instrumentalisieren. Dort sitzen von Erdoğan expediert rund 4.000 Jugendliche, zu 95 Prozent männlichen Geschlechts – und die bemitleidenswerten Medienagenten der üblichen NGOs haben echte Schwierigkeiten, niedliche kleine Mädchen vor die Kamera zu holen!

Deutschland, selbsterklärter Weltmeister im politischen Moralismus („Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“), nimmt die Hälfte dieser vor allem aus Afghanistan und Syrien stammenden Migranten auf. Spanien, Schweden, Dänemark, Österreich und die Osteuropäer wollen aus guten kühlen Gründen niemanden, während parallel Italien Alarm schlägt: Seit Jahresbeginn sind dreimal so viele Flüchtlinge übers Mittelmeer gekommen wie im Vorjahreszeitraum.

So schlägt denn die Europäische Kommission in einem erneuten Anlauf nicht zum ersten Mal eine gemeinsame Asyl- und Immigrationspolitik vor, die in wohlklingenden Worthülsen das Unvereinbare europäisch vergemeinschaften soll: Auf der einen Seite die weitgehend isolierte Merkel-Republik in Berlin, ergänzt durch das moralisierende Steuerparadies Luxemburg und die EU-Nomenklatura, einschließlich der Europäischen Parlamentsmehrheit, die für die unbegrenzte Zuwanderung ist. Auf der anderen Seite steht die Mehrheit der Mitgliedstaaten vom sozialdemokratisch regierten Dänemark über die schwarz-grüne Koalition in Wien bis zu Orbáns Ungarn, Slowenien und Polen, die nur echte beleg- und belastbare Asyl-Einzelfälle nachweisbar politisch Verfolgter etwa aus Weißrußland, Venezuela, dem Iran, Hongkong oder Burma ins Land lassen wollen.

Das Kommissionspapier, das seit September im EU-Ministerrat nicht vorankommt, gibt einerseits das Offensichtliche zu: „Das derzeitige System (der Migrantenverteilung) funktioniert nicht mehr, und in den letzten fünf Jahren hat es die EU nicht geschafft, dieses Problem zu lösen.“ Mit anderen Worten: Präsidentin von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker war dran schuld. Nur war es nicht der arme Juncker, sondern die deutsche Kanzlerin. Auch EU-Chefverhandler Michel Barnier konzediert in seinem jüngst veröffentlichten „Geheimen Tagebuch“, daß beim knappen Brexit-Referendum insbesondere die EU-Grenzöffnungspolitik vom Vorjahr der Tropfen war, der das Faß des britischen Überdrusses zum Überlaufen brachte. Nun fordert die EU- Kommission „ein entschlossenes Vorgehen gegen Schleuser“ und ein „berechenbares und zuverlässiges Migrationsmanagementsystem“, einschließlich der Rückführung von Leuten ohne Aufenthaltsberechtigung. Da dies der Großteil sein dürfte ein heroisches Unterfangen, wäre es denn ernst gemeint. Sehr zweifelhaft allerdings, ob die politisch und medial gehätschelten NGOs im Schleppergeschäft sich dabei angesprochen fühlen dürften. Zudem verlangt die Kommission Schnellverfahren und ein „Screening vor der Einreise“ mit Fingerabdrücken, einer Sicherheitsprüfung, Gesundheitstests und Registrierung in der Eurodac-Datenbank. Gut gebrüllt Löwe, möchte man meinen. Doch kann dies längst jede Konsularabteilung jedweder Botschaft eines EU-Staates, würde sie denn von legalen Auswanderungswilligen aufgesucht werden.

Auch Frontex, die zahnlose EU-Grenzschutzagentur mit Sitz in Warschau, soll mehr Personal und Geld erhalten. Einmal leiden die Kollegen unter akuten Wachstumsschmerzen durch ihre rapide Expansion. Dann stehen sie unter medialem und juristischem Dauerfeuer, weil ihre Leute die Rückführung Illegaler durch die griechische Küstenwache in die türkischen Ursprungshäfen angeblich nicht unterbunden hätten. Normalerweile wäre es eigentlich ihre Aufgabe gewesen, die Griechen dabei zu unterstützen, sollte man meinen. Jetzt bekommt Frontex überall Menschenrechtsanwälte als Aufpasser mit an Bord. Große Heldentaten gegen Schlepper und die organisierte Kriminalität an den EU-Außengrenzen sind von dieser absichtsvoll kastrierten Truppe sicher nicht zu erwarten.

Schließlich sollen noch weitere „Fachkräftepartnerschaften“ mit den Endsendeländern geschlossen werden: Sie sollen abgelehnte Asylbewerber und verurteilte Kriminelle zurücknehmen und stattdessen ihre Ärzte, IT-Fachleute und Krankenschwestern schicken. Sehr lustig, wie sich die EU-Kommission die Interessenlage der Herrscher von Nigeria über Marokko bis Pakistan vorstellt! Zu befürchten ist allerdings, daß bei einer eventuellen Kompromiß-Annahme durch den EU-Ministerrat und das ultra-korrekte EU-Parlament nur die Einwanderungserleichterung und nicht länger die Vorauswahl im Ursprungsland übrigbleiben wird.

Frau von der Leyen hat in einer ihrer vielen Antrittsreden vollmundig eine „geopolitisch“ denkende Kommission angekündigt. Kenntnisreiche Scherzkekse in Brüssel vermuten eher eine „egopolitische“ Kommission unter ihrer Führung. Es geht ihr und ihrem Vorschlag sicher nicht um rationales Migrationsmanagement nach kanadischem oder australischem Muster, die fast ausschließlich nur leistungsbereite, qualifizierte junge Ostasiaten aus Ländern mit einer konfuzianischen Bildungsethik (China, Japan, Korea, Vietnam, Singapur) ins Land lassen. 

Ohnehin war sie als Ministerin stets unbedingte Merkelistin und für eine möglichst  „bunte“ Bundeswehr. Es geht ihr wie schon bei den Corona-Bonds und damit der Kontrolle über die Staatshaushalte schlicht um mehr Macht für sich selbst und ihren von ihr eigentlich ungeliebten Brüsseler Apparat. Diesmal über die Einwanderungspolitik der EU-Staaten, ebenfalls wie der Haushalt oder die Geldpolitik ein Kernbereich nationaler Souveränität.

Nicht überraschend hat sie deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland in die Wege geleitet, dem zufolge die (im übrigen völlig folgenlose) milde Rüge des Bundesverfassungsgerichtes gegen das „willkürliche und methodisch nicht vertretbare“ Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank rechtswidrig sei. Ausschließlich der Europäische Gerichtshof habe in Sachen Europapolitik das letzte Wort. Niemand sonst. Mit der Hybris dieser Dame stellt sich nicht nur die Frage: „Finis Germaniae“? Sondern auch bald: „Finis Europae“?