© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

„Intellektueller Terrorismus“
Sein neues Buch „Verteidigung des deutschen Kolonialismus“ provoziert: Vor allem, weil der US-Politologe Bruce Gilley damit den Angriff totalitären Denkens auf die liberale Freiheit und Demokratie offenlegt
Moritz Schwarz

Herr Professor Gilley, Ihr Buch fordert die „Verteidigung des deutschen Kolonialismus“. Was bitte ist denn da zu verteidigen? 

Bruce Gilley: Gegenwärtig gibt es so gut wie keine Literatur, die die deutsche Kolonialgeschichte in einem positiven Licht darstellt. Ihre Behandlung durch die Historiker ist vielmehr die einer arroganten und selbstgerechten Verurteilung angeblicher Verbrechen. 

„Angeblicher Verbrechen“?

Gilley: Nicht nur die deutsche Geschichtsschreibung betrachtet in der Kolonialpolitik der europäischen Mächte das Verbrecherische als von vornherein gegeben – das muß aus ihrer Sicht gar nicht weiter bewiesen werden. So wird etwa die Lohnarbeit, die die Kolonialmächte den Einheimischen anboten, per se als Ausbeutung oder die Waffengewalt, die sie mitunter in Konflikten anwendeten, als Wegbereiter genozidaler Endlösung betrachtet. Und sogar das Wissen und die Kultur, die die Europäer mitbrachten, gilt lediglich als strukturelle beziehungsweise „epistemische“ Gewalt. Statt also den historischen Befund zu untersuchen, wie für Historiker üblich, beginnt man mit einem Urteil und sucht sich dann die passenden Belege dafür. Was freilich das Gegenteil von Wissenschaft ist! 

Aber was ist am deutschen Kolonialismus denn nun verteidigenswert? 

Gilley: Auf die deutsche Kolonialgeschichte bin ich gestoßen, als ich an einer Biographie über den britischen Imperialisten Alan Burns arbeitete. Denn dabei fiel mir auf, wie groß die Unterstützung der Einheimischen während des Ersten Weltkrieges für die Deutschen in ihren Kolonien war. In Deutsch-Ostafrika war sie sogar so groß, daß dort der Kampf gegen die Briten selbst nach dem Waffenstillstand in Europa vom 9. November 1918 weiterging. Als ich mich dann mit der gängigen deutschen Forschungsliteratur zum Thema auseinandersetzte, war ich platt: Denn was dort dargestellt wurde, hatte so gar nichts mit dem zu tun, was ich zuvor während meiner Beschäftigung mit Burns herausgefunden hatte.

Inwiefern?

Gilley: Ursprünglich bedeutete Kolonialismus die Ansiedelung von Kolonisten. Doch im 19. Jahrhundert wandelte sich die Bedeutung hin zu einer „Besiedelung“ mit Ideen und Institutionen der Aufklärung, wie liberale Toleranz, demokratische Mitwirkung, Rechtsstaatlichkeit etc. Während allein Siedler zu importieren oder Rohstoffe zu exportieren als schnöder Imperialismus galt. Dies war es – weit mehr als Beamte, Soldaten und Siedler –, was die Überseegebiete kolonisierte. Und auch Deutschland war in diesem Sinne eine typische Kolonialmacht, sprich es brachte diese Ideen und Institutionen in seine „Schutzgebiete“, wie es seine Kolonien nannte. 

Aber was ist mit tatsächlicher Ausbeutung und Gewalt, die es auch gab. Etwa bei der Niederschlagung des Herero-Aufstandes 1904 in Deutsch-Südwestafrika?

Gilley: Das ist immer die erste Frage, die kommt, wenn es um den deutschen Kolonialismus geht: „Was ist mit den Hereros?“ Deshalb habe ich diese Frage, beziehungsweise die nach Deutsch-Südwest-afrika auch an den Anfang meines Buches gestellt. Falls die Deutschen überhaupt eine Ahnung von ihrer Kolonialgeschichte haben, dann wissen sie meist nur, daß dort damals Schlimmes passiert ist. Allerdings ist diese Tragödie eine Ausnahme, die im Widerspruch zur sonstigen deutschen Kolonialpolitik steht. Denn tatsächlich war die Kolonialzeit für einige der ehemaligen deutschen Schutzgebiete sogar die einzige positive Periode ihrer Geschichte, da davor und danach wilde, unsichere Zustände herrschten. Die koloniale Reform in Deutsch-Ostafrika von 1907 etwa leitete dort eine Epoche des Fortschritts ein, die in der kolonialen Geschichte Afrikas ihresgleichen sucht! Oder nehmen Sie die deutsche Kolonialresolution von 1914, die ein Zwangsarbeitsverbot, Arbeitnehmerrechte und die allgemeine Schulpflicht verfügte. Und die der amerikanische Geschichtswissenschaftler Woodruff Smith einmal beschrieb, als „die umfassendste Erklärung durch eine Kolonialmacht seiner selbst­auferlegten Verantwortung gegenüber den Kolonialvölkern und der Begrenzung der Ausübung der Kolonialmacht“.

Jüngst haben wir die Greuel bei Niederschlagung des Herero-Aufstands als Völkermord anerkannt. Zu Recht?

Gilley: Ich meine nein. Denn zu den Voraussetzungen für Völkermord zählen sowohl Vorsatz, wie der klare Entschluß dazu, ein Volk auszurotten. Beides war nicht gegeben. Zwar war die Gewaltanwendung des deutschen Generals Lothar von Trotha der Bedrohungssituation durch den Aufstand überhaupt nicht angemessen und endete in einer Tragödie, bei der Zehntausende Herero und Nama umkamen, so daß erstere zu 75, letztere zu 50 Prozent ausgelöscht waren. Doch zum einen waren seine drakonischen Maßnahmen von der Regierung in Berlin überhaupt nicht genehmigt und wurden offiziell auch verurteilt, er schließlich abberufen. Zum anderen war es auch nicht von Trothas Absicht, Herero und Nama auszurotten – auch wenn er mit äußerster Brutalität gegen sie vorging –, sondern sie in die britische Nachbarkolonie zu vertreiben, beziehungsweise die wwNama einfach zu besiegen.

Wie kommt dann die fast einhellige Zustimmung unter den Historikern zustande, daß Deutschland von nun an zwei Völkermorde zu verantworten hat? 

Gilley: Das ist Folge angesprochenen Vorgehens, das Resultat vor die Analyse zu setzen. Junge Historiker, die das nicht tun, die nicht den „Antikolonialismus“ als Ausgangspunkt ihrer Arbeit akzeptieren, droht, auf der Straße zu landen, statt die nächste Stufe der Karriereleiter zu erklimmen. Ich habe selbst erlebt, wie schnell es geht, deshalb als „Rassist“ gebrandmarkt und einem gewaltbereiten Mob ausgesetzt zu sein, als 2018 die renommierte Fachzeitschrift Third World Quarterly meinen Aufsatz „The Case for Colonialism“ (Argumente für den Kolonialismus) online veröffentlichte. Gemäß der Doktrin heutiger Kolonialgeschichtsschreibung muß diese „verurteilen“ und „anerkennen“, und nicht etwa erforschen und hinterfragen. 

Ist es angesichts einer solchen Stimmung klug, Ihr Buch ostentativ „Verteidigung des deutschen Kolonialismus“ zu nennen? Da gehen doch sofort alle Klappen zu. 

Gilley: Ich halte es, im Gegenteil, sogar gerade für einen Fehler jener Autoren, die bisher eine alternative Sichtweise einbringen wollten, zu euphemistischen Buchtiteln gegriffen zu haben, um sich nicht zu exponieren. Dieses Buch soll unmißverständlich deutlich machen, daß es eine andere Perspektive vertritt!

Welche Reaktionen erwarten Sie auf Ihr Buch?

Gilley: Da die deutsche Geschichtswissenschaft keine Wissenschaft mehr ist, sondern eine soziale Bewegung, rechne ich nicht damit, daß man auf meine Inhalte eingehen wird. Vielmehr wird man es wohl als Teil eines Versuchs „alter weißer Männer“ angreifen, Geschichtsschreibung durch eine „rassistische Verschwörungstheorie“ zu ersetzen. Ich werde die Reaktionen jedoch verfolgen und in die englischsprachige Ausgabe meines Buches einarbeiten, die doppelt so umfangreich sein wird wie die deutsche, und die 2022 im anerkannten konservativen US-Verlag Regnery in Washington D.C. erscheint. 

Im Grunde zielt Ihr Buch also gar nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart?

Gilley: Nun, glauben Sie doch bitte nicht, daß die Aktivisten, die bei Ihnen in Deutschland die Dekolonisierungs-Agenda vorantreiben, sich vor allem für die Vergangenheit, also die Geschichte der deutschen Kolonien oder Kolonialvölker interessieren. Vielmehr haben sie erkannt, daß je mehr sie die deutsche Geschichte diskreditieren, sie um so leichter ihre politische Agenda umzusetzen vermögen. Denn haben sie erstmal Dekolonisierung als Axiom etabliert, können sie alles andere durchsetzen, allein indem sie es mit dem Kolonialismus in Verbindung bringen: Weiße in der Politik, Einwanderung, ja sogar Stadtplanung in Berlin – alles kann man irgendwie mit Kolonialismus verbinden und dann verlangen, es zu ändern. Oder Religion, deutsche Philosophie, Literatur, Kultur etc., überall finden sich angebliche Anknüpfungspunkte, um zu behaupten, wegen des Kolonialismus sei das alles diskreditiert und dürfe ab jetzt nicht mehr gepflegt und gelehrt werden. Oder es könnte künftig argumentiert werden, wenn etwa Deutschland eine führende Rolle in der EU einnimmt, so stehe das in deutscher kolonialer Tradition. Weshalb die deutsche Außenpolitik dekolonisiert werden und Deutschland sich in der EU unterordnen müsse. Und gegen all das wird so gut wie keine Gegenwehr möglich sein. Denn alle, die mit der tatsächlichen Geschichte des deutschen Kolonialismus nicht vertraut sind, werden gar nicht wissen, wie sie anders darauf reagieren sollen, als klein beizugeben, um bloß nicht in der Tradition eines angeblich verbrecherischen Kolonialismus zu stehen. Sprich, sie sind dem intellektuellen Terrorismus dieser Historiker vollkommen unterworfen.

Die Debatte über den Kolonialismus ist also eine Art Kampf um die Zukunft?

Gilley: Es geht meiner Ansicht nach um eine Art „marxistischen“ Versuch, das liberale und aufklärerische Erbe der westlichen Zivilisation zu stürzen und diese in einen voraufklärerischen Zustand zu überführen, in dem der Pluralismus unserer offenen Gesellschaften abgeschafft ist. 

Aber es geht doch gerade um „Diversity“, also eine Form von Pluralismus?

Gilley: Der Begriff „Diversity“ soll den des „Pluralismus“ ersetzen, weil er eben nicht, wie dieser, Vielfalt im aufklärerischen Sinne meint, sondern im Sinne fixer Kategorien, denen man nicht mehr entkommen kann. Ähnlich denen in der Zeit vor der europäischen Aufklärung mit ihren festen gesellschaftlichen Ständen und Religionszugehörigkeiten. Ebenso wird die liberale Gleichheit, die „Equality“ – also die Gleichwertigkeit –, durch „Equity“, also identitäre Gleichheit, ersetzt. Wonach eben nicht mehr alle gleich – im Sinne von gleichwertig – sind, sondern ihre Stellung abhängig ist von der Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe. Auch das bedeutet also eine Rückkehr zur voraufklärerischen Gesellschaft.

Bemerkenswert ist, daß „Dekolonisierung“ traditionell nur in bezug auf Kolonien Sinn ergibt. Heute aber wird es für die ehemaligen Mutterländer gefordert – was in der Zeit der tatsächlichen Entkolonisierung, den fünfziger, sechziger Jahren, kein Mensch verstanden hätte.

Gilley: Ja, und noch viel bizarrer ist, daß eigentlich kein Mensch in einem wirklich „dekolonisierten“ Land leben will. Das also, nach dem Verständnis heutiger Aktivisten und Historiker, frei von westlicher Kultur ist. Wer möchte tatsächlich Bürger eines Staats ohne liberal-kapitalistische wirtschaftliche Basis, ohne liberale politisch-rechtliche und ohne wissenschaftlich-technische Grundlage sein? Wie viele Auswanderer verlassen Europa, die USA oder ein anderes Land, um endlich in Kuba, Saudi-Arabien oder dem Sudan besser, freier und sicherer zu leben? 

Dennoch gelingt es, die Dekolonisierungs-Agenda im Westen überraschend massiv voranzutreiben. Warum?  

Gilley: Gerade weil es sich, wie meine Antwort eben aufgezeigt hat, um ein völlig undemokratisches Vorgehen handelt, das nicht mit überzeugenden Argumenten, sondern mit Drohungen und Macht durchgesetzt wird. Und das wird auch so weitergehen, solange sich die Deutschen beziehungsweise die Bürger der westlichen Gesellschaften nicht mit Wissen über historische Fakten und Zusammenhänge und den Grundprinzipien der Wissenschaftlichkeit „bewaffnen“. Denn so lange werden sie nicht in der Lage sein, zu erkennen, daß „Dekolonisierung“ kein tugendhafter, sondern ein zutiefst destruktiver Appell ist und eine Form politischer Gewalt, die den demokratischen Prozeß außer Kraft setzt.

Sie sehen außerdem einen Zusammenhang zum heute so populären Begriff „Rassismus“. Welchen?

Gilley: Dem Kolonialismus wird heute unterstellt, Ausdruck von Rassismus gewesen zu sein. Dabei wird völlig übersehen, daß er im Grunde das womöglich größte antirassistische Programm der Geschichte überhaupt war! Zwar finden sich viele rassistische Elemente bei den Kolonisatoren – wobei man sich klarmachen muß, daß etliche nur aus unserer heutigen Sicht „rassistisch“ erscheinen. Gleichwohl aber zielte der Kolonialismus selbst stets darauf, Gruppenidentitäten aufzulösen und statt dessen eine zivil-bürgerliche Identität auszubilden. Das koloniale Deutschland war damals übrigens gerade selbst erst dabei, Gesellschaften mit ausgeprägter Stammesidentität, wie Bayern, Preußen, Sachsen etc., in eine gemeinsame zivile Identität der Deutschen umzuwandeln. Und das gleiche war in den Kolonien bezüglich der dortigen Völker, nicht nur ein Neben-, sondern ein zentraler Aspekt der deutschen Kolonialpolitik. Und daß die Dekolonisierungs-Aktivisten diesen „kolonialen Antirassismus“ rückgängig machen wollen, ist eben nicht nur ein – wie man ihnen zunächst vielleicht zugute halten könnte – unfreiwilliger Nebenaspekt ihrer Dekolonisierung, sondern ein zentraler! Da es ja gerade ihr Ziel ist, wieder nach Rasse, Hautfarbe, Abstammung etc. zu kategorisieren. Mit der „Dekolonisierung“ des Westens sind wir also tatsächlich Zeugen eines Programms der Re-Rassifizierung und der Barbarisierung unserer Gesellschaft, Politik und Kultur.






Prof. Dr. Bruce Gilley, der Kanadier, Jahrgang 1966, studierte Politologie und Ökonomie in Princeton und Oxford. Er lehrt an der Universität von Portland/Oregon, publiziert in diversen Zeitschriften, ist Mitherausgeber des Journal of Democracy, Träger mehrerer Preise und Autor etlicher Bücher. Jüngst erschienen: „Verteidigung des deutschen Kolonialismus“ 

Foto: Demonstration gegen den Kolonialismus in Berlin (Oktober 2019): „Glauben Sie bitte nicht, daß es der Dekolonisierungs-Bewegung um die Geschichte oder die Kolonialvölker geht. Vielmehr hat sie erkannt, daß sich politisch viel mehr durchsetzen läßt, wenn man alles mit einem angeblich verbrecherischen Kolonialismus in Verbindung bringen kann“