© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Außer Thesen fast nichts gewesen
Terrorismus: Der Amri-Untersuchungsausschuß des Bundestages endet. Seine Bilanz ist ernüchternd
Jörg Kürschner

Im Dezember jährt sich der bisher schwerste Anschlag islamistischer Terroristen in Deutschland zum fünften Mal, doch ist es hierzulande bedrückend still geworden um diese Gewalttat. Am 19. Dezember 2016 kurz nach 20 Uhr war der Tunesier Anis Amri mit einem gestohlenen Lkw auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche gerast. Auf dem Breitscheidplatz mitten in Berlin starben elf Menschen, 67 wurden verletzt. Erinnerungen an die Bluttat werden nur noch selten wach, etwa wenn parlamentarische Untersuchungsausschüsse mit neuen Erkenntnissen aufwarten. Im Bundestag untersuchen seit Frühjahr 2018 neun Abgeordnete die Umstände des Terroranschlags. Zuvor hatten bereits die Landesparlamente in Berlin und Nordrhein-Westfalen Untersuchungsausschüsse eingesetzt.

„Bei Aufklärung der Hintergründe behindert“

Was haben 750 Stunden Sitzungen und 150 Zeugenanhörungen gebracht, fragte gerade der FDP-Obmann im Bundestagsuntersuchungsausschuß, Benjamin Strasser, nachdenklich, der in Begleitung seiner Kolleginnen der Grünen, Irene Mihalic, und der Linkspartei, Martina Renner, das gemeinsame Sondervotum der drei Fraktionen vorstellte. Dieses liest sich wie eine Anklageschrift gegen die Sicherheitsbehörden, die am Donnerstag kommender Woche zusammen mit dem Abschlußbericht der Koalition vom Parlament diskutiert werden soll.

An der genauen Aufklärung der Hintergründe der Tat haben die Hinterbliebenen ein berechtigtes Interesse wie auch die Öffentlichkeit. Bis heute klagen Angehörige der Opfer über die geringe Zuwendung des Staates und über bürokratische Hemmnisse bei Entschädigungszahlungen. Es war auf Kritik und Unverständnis gestoßen, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Angehörigen erst ein Jahr nach der Tat empfangen hatte. Hinterbliebene hatten ihr seinerzeit in einem offenen Brief politisches Versagen vorgeworfen und mißbilligt, daß sie nicht persönlich kondoliert habe. Es war der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, der die Angehörigen besucht hatte.

Der Ausschuß will daraus Lehren ziehen und Empfehlungen für die Betreuung und Unterstützung von Hinterbliebenen und Opfern aussprechen. Auf den Vorwurf des Vaters des zwölften Opfers, des polnischen Lkw-Fahrers, die deutschen Behörden hätten sich respektlos verhalten, folgte peinliches Schweigen. So plädierte Strasser für ein jährliches nationales Gedenken an alle Opfer terroristischer Gewalttaten am 11. März. Seit 2005 wird an diesem Tag auf europäischer Ebene der vielen Menschen gedacht, die weltweit durch terroristische Anschläge getötet wurden. In Deutschland ist dieser Gedenktag im öffentlichen Bewußtsein kaum verankert. Wichtig für die Betroffenen: die Härteleistungen sollen erhöht werden.

Zur Aufdeckung der Tatumstände hat der Ausschuß allerdings kaum beigetragen. Merkels Versprechen, „die Hintergründe der Tat würden aufgeklärt und mögliche Unterstützer des mutmaßlichen Täters gefunden“, wurde nicht eingelöst. Die Ursachen dafür sind vielfältig, summieren sich durch Einzelaspekte zu einem Gesamtversagen: Verspätete Aktenlieferungen der Behörden an die Abgeordneten, Kommunikationspannen im Bundesnachrichtendienst (BND), beim Landesverfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern, Kompetenzgerangel und Fehleinschätzungen zwischen Bundesbehörden … BND-Präsident Bruno Kahl sah Anlaß, „das eigene Handeln selbstkritisch zu überprüfen“ und auch „einige Fehler einzugestehen“. Für sie bleibe klar, daß der Verfassungsschutz in seiner Form als Geheimdienst aufgelöst werden müsse, resümiert die Linke Renner. 

Die Liste der Pannen ist lang. Zu Vorhaltungen, Amri habe sich wiederholt mit möglichen Anschlägen gebrüstet, entgegnete Generalbundesanwalt Peter Frank, der Kontakt zu Mitgliedern ausländischer Terrororganisationen allein sei nicht strafbar. „Sympathiewerbung für eine terroristische Vereinigung hat der Gesetzgeber 2002 aus dem Strafrecht gestrichen“. Der Täter war als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, wo er unter verschiedenen Identitäten lebte. In der Hauptstadt war Amri Vorbeter in der radikalen Fussilet-Moschee. Kurz nach dem Anschlag wurde er auf der Flucht in Italien von Polizisten erschossen. 

Im Fokus dieser drei Oppositionsfraktionen wie auch der AfD steht die These, der den Sicherheitsbehörden als Gefährder bekannte Täter habe den gekaperten Lkw ohne fremde Hilfe in den Weihnachtsmarkt gelenkt, sei also ein Einzeltäter gewesen. So sieht es das Bundeskriminalamt, die Opposition hält dagegen. „Sehr, sehr unwahrscheinlich“, meint die Grüne Mihalic und verweist auf die Begleitumstände der Tat. Amri habe sich nach vier Jahren Haft in Italien eineinhalb Jahre in Deutschland aufgehalten, ohne in dieser Zeit je Lkw gefahren zu sein. „Wie kann man da einen 40-Tonner steuern?“

Ein vom Ausschuß in Auftrag gegebenes Gutachten schließt aufgrund von DNA-Spuren eine unbekannte zweite Person in dem Lkw nicht aus. War Amri nur ein Beifahrer? Woher hatte er die Pistole, mit der er den Lkw-Fahrer erschoß? Auch die AfD widerspricht der Einzeltäter-These. „Er war in ein salafistisches Netzwerk in Deutschland eingebunden und hatte intensive Kontakte zu Terrorzellen des IS, insbesondere in Libyen“, heißt es in dem über 120 Seiten langen Sondervotum der beiden Abgeordneten Stefan Keuter und Thomas Seitz, das der JUNGEN FREIHEIT vorliegt. Zum Mißfallen der anderen Fraktionen hatte die AfD in ihren Anträgen stets einen Zusammenhang zwischen der Migrationspolitik der Regierung und dem Attentat hergestellt. „Bei gesicherten Grenzen und konsequenter Anwendung der Drittstaatenregelung hätte es den Anschlag auf dem Breitscheidplatz nicht gegeben“, hatte Fraktionsvize Beatrix von Storch die Marschrichtung bereits zu Beginn der Beratungen des Ausschusses ausgegeben. Im Resümee des AfD-Votums heißt es dann auch, daß sich zumindest „die Wahrscheinlichkeit für den schwersten islamischen Anschlag in der Bundesrepublik sowie damit verbunden das Leid der Angehörigen und Opfer erheblich reduziert hätten“. Die AfD beklagt, sie sei „bei der Aufklärung der Hintergründe dieses grausamen historischen Ereignisses sowohl von der Bundesregierung als auch von den Ländern und nicht zuletzt leider sogar auch von den anderen Fraktionen im Bundestag“ immer wieder behindert worden. Vor allem die Ladung von Angela Merkel als Zeugin habe man der größten Oppositionsfraktion verwehrt.

Wie Amri nach Italien fliehen konnte, ist weiter unklar 

So blieb die Spurenlage unter den Abgeordneten bis zum Schluß unklar. Hinweise eines ehemaligen Mitarbeiters des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern auf Unterstützer Amris durch eine arabische Großfamilie aus dem Berliner Clan-Milieu wurden nicht ernst genommen und deshalb nicht an den Generalbundesanwalt weitergeleitet, der Schweriner Amtschef mußte seinen Hut nehmen. Unklar ist auch, wie Amri nach der Tat die Flucht nach Italien gelang.

Im Ergebnis kritisiert die Opposition, die Sicherheitsbehörden hätten vorliegende Hinweise vor dem Anschlag zumindest fahrlässig nicht oder falsch ausgewertet und bewertet. Eine niederschmetternde Bilanz. SPD-Obmann Fritz Felgentreu sieht ebenfalls eine mangelhafte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Anzeichen für schwerwiegende Versäumnisse sieht er aber nicht. Die Union will erst in den nächsten Tagen die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses bewerten.

Foto: Tatort des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz 2016: These vom Einzeltäter ist nach wie vor strittig