© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Grüße aus Wien
Bitte sagen sie nie „City“
Robert Willacker

Schaun’s: „Wenn die Welt untergeht, dann geh nach Wien, dort geschieht alles 20 Jahre später.“ Dieser alte Ausspruch, dessen Ursprung heute nicht mehr zweifelsfrei zu klären ist, wird gern herangezogen, um Fremden das Wesen dieser schönen Stadt auf humoristische Weise nahezubringen. Jedoch wird man Wien damit nur bedingt gerecht. Es verhält sich nämlich keineswegs so, daß der Wiener per se gegen Veränderung wäre, vielmehr wird sie von ihm skeptisch-interessiert beäugt.

Stellt sie sich sodann als eine Errungenschaft von annehmbarer Qualität heraus, so will der durchaus begeisterungsfähige Wiener auch nicht mehr unbedingt an sein ursprüngliches Zaudern erinnert werden.

Dieser Tage steht wieder eine solche Veränderung ins Haus: die vorübergehende Schließung und der monatelange Umbau einer Wiener Institution, des über siebzig Jahre alten „Julius Meinl am Graben“. Der Graben, das ist eine der wichtigsten und bekanntesten Straßen der Inneren Stadt, wie das Zentrum Wiens genannt wird – was immer Sie in Wien tun, bezeichnen Sie die Innenstadt niemals als „City“.

Pracht, die nie zum Protz verdirbt, Stolz, der sich nie zur Arroganz verwächst und Lebensfreude.

Der Graben, der schon auf das alte Römerlager Vindobona zurückgeht, führt vom Stephansplatz mit seinem gleichnamigen Dom geradewegs auf ein mondänes Gebäude zu, das das vielleicht exquisiteste Lebensmittelgeschäft der Stadt beherbergt – den Meinl. Der Volksmund quetscht noch ein „d“ hinein, so daß aus dem Meinl dann der „Meindl“ wird. 

Wer hier einkauft, der macht sich um eine drohende Inflation keine Sorgen. Man würde sie ohnehin kaum bemerken. Wer aber glaubt, der Meinl sei einfach irgendein Luxus-Supermarkt, der liegt falsch. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine Art Zeitglas, das auf zwei Etagen, verbunden durch eine breite und knarzende Holztreppe, den Blick ins alte Wien ermöglicht. In eine Zeit, in der Herrschaften, gnädige Damen und junge Fräuleins selbstverständlich als solche tituliert wurden und als man der äußeren Form noch den gleichen Wert beigemessen hat wie der inneren Verfaßtheit. 

Dunkles Holz dominiert den Raum, hinter der Fleischtheke trägt man Schiffchen und Krawatte, und die rege Betriebsamkeit wächst sich nie zu aufdringlicher Hektik aus. Überhaupt spiegelt der Meinl ein Stück weit das wider, was Wien als Stadt ausmacht: Pracht, die nie zum Protz verdirbt, Stolz, der sich nie zur Arroganz verwächst und Lebensfreude, die nie zur Maßlosigkeit verkommt. 

Wenn der neu gestaltete Meinl im Herbst wieder seine Pforten öffnet, dann wird sich damit auch ein kleines Stück von Wien verändert haben. Sein Charakter, so die Hoffnung, wird den Umbau überdauern, so wie der Charakter der Stadt auch schon so manchen Umbau überdauerte.