© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Kommission leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein
Es geht ums Ganze
Dirk Meyer

Vor Beginn eines Streits sind die Wege seiner Beendigung auszuloten. Diesen Grundsatz konstruktiver Auseinandersetzung hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mißachtet, als sie ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet hat. Anlaß ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Mai 2020, das die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), der das Staatsanleiheankaufprogramm (PSPP) als rechtmäßig beurteilte, als „objektiv willkürlich“ und „methodisch nicht mehr vertretbar“ bewertet hatte. Auch sei das PSPP teilweise verfassungswidrig, da die EZB die Verhältnismäßigkeit bezüglich der Zinswirkungen unzureichend geprüft hätte. Es war das erste Mal, daß das BVerfG einen Grundgesetz-Verstoß durch europäische Institutionen feststellte – aufgrund einer Anmaßung von Kompetenz, die nicht durch die EU-Verträge gedeckt sei.

Auch um Rechtsverstößen Polens und Ungarns entgegenzutreten, keine Sonderbehandlungen großer Staaten wie Deutschland zuzulassen und zukünftig ein „Europa à la carte“ durch die Nichtbeachtung von EuGH-Entscheidungen auszuschließen, hielt die EU-Kommission diesen Schritt für notwendig. Vorrang von EU-Recht ist schließlich ihr Grundanliegen. Doch müssen hier zwei Sachverhalte klar unterschieden werden: Zum einen die EuGH-Rechtsprechung auf der Basis des geltenden EU-Rechts. Dieser ist uneingeschränkt zu folgen. Gemäß dem „Honeywell“-Urteil des BVerfG wurden 2010 dem EuGH sogar handwerkliche Fehler bei der Rechtsprechung zugebilligt, die es national zu akzeptieren gilt. Zum anderen hat das BVerfG in seinem Maastricht-Urteil (1993) den Fall eines ausbrechenden Rechtsakts beschrieben: Jede EU-Kompetenz muß durch eine begrenzte Einzelermächtigung der EU-Staaten auf die Unionsebene ausdrücklich übertragen werden. Ansonsten handelt die EU ultra vires, also außerhalb ihrer Kompetenz.

Nur ein Bundesstaat kann sich seine Kompetenz selbst schaffen, nicht aber ein supranationaler Staatenbund, wo die einzelnen Staaten die „Herren der Verträge“ sind. Gelte dies nicht mehr, würden die Nationalstaaten und ihre Bürger de facto entmachtet. Da dann das Handeln der EZB nicht mehr national kontrolliert werden kann, droht Willkür der EU-Institutionen. Die EU-Repräsentanten wollen eine Politik der Machtanmaßung in Richtung EU-Bundesstaat durchsetzen. Das Corona-Wiederaufbauprogramm (Next Generation EU) mit gemeinschaftlicher Schuldenaufnahme (Eurobonds) und eine geplante Erhebung eigener Steuern gehen in die gleiche Richtung. Deutschland verliert Einfluß, und bei Haftungsübernahme wird es sehr teuer.

Die Bundesregierung hat zwei Monate Zeit, auf das Brüsseler Mahnschreiben (Artikel 258 EU-Vertrag) zu antworten. Doch wie? Das unabhängige BVerfG kann politisch zu keinerlei Zugeständnissen genötigt werden. Selbst wird es sich kaum äußern wollen. Es geht nun ums Ganze. Endlich tritt der Konflikt offen zutage, der für die Verfassungsrichter bei zukünftigen EU-Entscheidungen so wichtig ist. Denn er rührt an der fragilen juristischen, gleichwohl ökonomischen und politischen Machtbalance, die der EU seit vielen Jahren nur eine scheinbare Stabilität gegeben hat. Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist in eine Schlacht gezogen, die sie nicht gewinnen kann.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.