© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Katastrophale Versorgungslage
Industrie und Handwerk: Selbst Stahl ist in Deutschland inzwischen Mangelware / „Den Preissteigerungen sind gefühlt keine Grenzen mehr gesetzt“
Elias Huber

Aluminium, beliebte Automodelle, chemische Grundstoffe, Dämmstoffe, elektronische Schaltkreise, Gummi, Holz, Kunststoffe, Kupfer, Schrauben oder Spanplatten – bei immer mehr Produkten stockt der Nachschub. Es trifft Mittelständler wie globale Konzerne (JF 23/21). Selbst Stahl ist derzeit sehr knapp, manche erinnert das an die sozialistische Mangelwirtschaft in der DDR. Doch der Vergleich hinkt – in Marktwirtschaften wird bei Mangel das Unverzichtbare einfach teurer, es gibt Inflation.

„Den Preissteigerungen sind gefühlt keine Grenzen mehr gesetzt“, schreibt etwa der Vertriebsleiter eines Stahlgroßhändlers in einer E-Mail, die der JF vorliegt. Bei Stahlblechen, Stabstahl und Trägern komme es zu einer regelrechten Preis-Rallye. Für die nächsten Monate rechnet der Manager mit weiteren Verteuerungen. „Es wird jede Bestellung geprüft und nur gezielt Material rausgegeben, nur an die Stammkundschaft!“, schreibt er an einen Kunden – und das erinnert tatsächlich an die „Beziehungen“, die in der DDR nötig waren, um an Mangelwaren zu kommen.

Zahlen des Preisinformationsdienstes Platts zeigen, wie sehr die Stahlpreise in diesem Jahr angestiegen sind. Im November 2019 kostete sogenannter Warmband-Stahl aus Werken im Ruhrgebiet 425 Euro pro Tonne. Bis Juli 2020 fiel der Preis auf 407 Euro. Danach ging es steil bergauf: im Februar auf 730 Euro und im Juni gar auf 1.100 Euro. Bei einer Unternehmensumfrage des Ifo-Instituts berichteten denn auch 51,4 Prozent der Hersteller von Metallerzeugnissen, daß im April Vorprodukte fehlten.

In der Vor-Corona-Zeit belächelte Stahlhersteller wie Thyssenkrupp profitieren von den hohen Preisen und meldeten Anfang Mai satte Zuwächse bei Umsätzen und Profitabilität. Stahlverarbeitende Unternehmen haben Lieferschwierigkeiten, stehen aber gleichzeitig weiter unter Kostendruck. „Die Schmerzgrenze bei den Preisen ist inzwischen so weit überschritten, daß die Lage für viele Unternehmen existenzbedrohend ist“, sagte ein Einkaufsleiter gegenüber dem Fachinformationsdienstleister Martin Brückner Infosource.

Die Lieferengpässe bringen nachgelagerte Branchen außer Takt, etwa den von der Pandemie kaum betroffenen Bausektor. Im Mai klagten im Hochbau 43,9 Prozent und im Tiefbau 33,5 Prozent über Materialknappheit, wie die Ifo-Umfrage zeigte. Das sei ein „beispielloser Engpaß“ wie seit 30 Jahren nicht, sagten die Forscher bereits bei einer früheren Branchenumfrage. Das Problem: Schlosser, die auf Stahlbauteile angewiesen sind, haben ihre Aufträge abgeschlossen, als die Materialpreise deutlich geringer waren. Wer nun wegen fehlenden Materials nicht liefere, dem drohten Schadensersatzforderungen , erklärt ein Architekt und fügt hinzu: „Manche Handwerker werden ein Nullsummenspiel machen, um die Firma am Leben zu erhalten.“

„Außerordentlich hohe Komplexität“

Laut einem Mitgliederschreiben des Bundesverbands Deutscher Stahlhandel (BDS) sind an den hohen Preisen unter anderem Antidumping-Zölle der EU schuld. Auch die Containerpreise in der Frachtschiffahrt hätten sich bis um das Fünffache verteuert. Außerdem habe China Anfang Mai bestimmte Importzölle gesenkt und gleichzeitig Exportsubventionen gestrichen. Bei Exporten seien Rabatte von 13 Prozent auf die Mehrwertsteuer bei über hundert Stahlprodukten entfallen. „Die Maßnahmen verfolgen den Zweck, Produkte aus chinesischer Produktion auf dem heimischen Markt zu belassen und die Kosten für Importe zu senken“, klagen die deutschen Stahlhändler. Auch der Preis von Eisenerz habe sich innerhalb eines Jahres verdoppelt, Stahlschrott koste 70 Prozent mehr als vor zwölf Monaten, und die wichtigsten Legierungselemente seien „spürbar“ teurer.

Der Sprecher eines großen Stahlproduzenten aus Deutschland verweist auf den Lockdown, um die Lieferprobleme zu erklären: Zu Beginn der Corona-Krise seien viele Industrien über Nacht stillgestanden, etwa große Teile der Autoindustrie. Die Stahl-Nachfrage sei plötzlich eingebrochen und habe im Herbst wiederum schneller als erwartet angezogen. Das verursache bei integrierten Produktionsprozessen wie Stahl eine „außerordentlich hohe Komplexität“. Auch brauche es einige Wochen, um einen Hochofen wieder auf volle Leistung hochzufahren.

Indes rechnen Branchenbeobachter nicht mit einer raschen Entspannung. Es drohe eine weitere Verknappung, schrieben Ende Mai die Industrieverbände für Blechumformung undMassivumformung sowie der Deutsche Schraubenverband in einer gemeinsamen Erklärung. Lieferketten könnten reißen, warnten sie: „Eine derart katastrophale Versorgungslage ist unverantwortlich.“ Diese Branchenvertreter machten vor allem die Stahlhersteller verantwortlich, die die Produktion nicht rasch genug ausweiten würden. Auch der BDS schreibt, eine Erholung sei derzeit „nicht absehbar“.

Wenn Stahl fehlt, spüren das auch die Autohersteller und Maschinenbauer. Selbst viele Produkte, die eigentlich gar keinen Stahl enthalten, können ohne den Basiswerkstoff nicht hergestellt, gelagert oder transportiert werden. Laut dem BDS sank die Rohstahlproduktion in Deutschland, dem immer noch größten Hersteller in der EU, voriges Jahr um zehn Prozent. Im ersten Quartal von 2021 habe sie zwar zugenommen, aber liege weiter „deutlich“ unter dem langjährigen Schnitt.

Die Finanzchefin eines mittelständischen Metallbaubetriebs ist gegenüber der JF besorgt. Gerade hat das Unternehmen mit vier Generationen Firmengeschichte erfahren, daß ein Zulieferer die Preise erneut erhöht hat. Verschiedene Abmessungen und Farben im Stahlblechbereich seien schlecht oder gar nicht mehr verfügbar, die Materialknappheit werde sich zum dritten und vierten Quartal „noch weiter drastisch verschärfen“, teilte der Zulieferer mit. Müsse man wegen Materialmangel in Kurzarbeit gehen, könne man vielleicht ein halbes Jahr durchhalten, schätzt die Finanzchefin.

Bundesverband Deutscher Stahlhandel: www.stahlhandel.com

Foto: Armierungseisen vor einer Schaltafel auf einer Baustelle: Mehr Schadensersatzforderungen?