© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

„Idiotensichere Ausarbeitung“
Wirecard-Skandal: Opposition und Regierung streiten um die Verantwortung / Heftige Bundestagsdebatte erwartet
Martin Krüger

Wirecard sei „nach Zalando die erfolgreichste deutsche Gründerstory des vergangenen Jahrzehnts“, schwärmt die FAZ. „Wir haben das Beste noch vor uns“, wird Vorstandschef Markus Braun ehrfürchtig zitiert. Ein hundertseitiger Bericht von britischen Börsenexperten über Betrug, Geldwäsche, Korruption und illegales Glücksspiel enthalte nur die Vorwürfe des „selbsternannten Analysehauses Zatarra“. Im Handelsblatt wird Braun zum „Aufsteiger des Jahres“ ernannt, denn der global tätige bayrische Finanzdienstleister habe das viertgrößte Geldhaus Deutschlands, die Commerzbank, aus dem Dax verdrängt. Dennoch sei Brauns „höchste Motivation“ keineswegs Geld, sondern „ein Faible für Technologie, er glaube an den Siegeszug vom elektronischen und mobilen Zahlungsverkehr“.

Weitgehend ahnungslos und immer nicht zuständig

All das ist keine drei Jahre her – nun wird vermeldet: Dem früheren Wirecard-Chef drohe eine Anklage wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, Marktmanipulation und Untreue. Das Strafmaß könnte mehr als zehn Jahre Haft bedeuten. Bereits seit dem 22. Juli 2020 sitzt Braun in U-Haft und er muß dort jetzt auch die unterschiedlichen Abschlußberichte des Untersuchungsausschusses des Bundestags zur Kenntnis nehmen. Neben dem Fazit der Koalitionsfraktionen wird es einen Sonderbericht von FDP, Linken und Grünen geben. Ein Sondervotum wird von der AfD erwartet. Mit Kay Gottschalk saß deren Finanzexperte dem Gremium vor.

Über die Berichte wird es am 25. Juni eine Bundestagsdebatte geben. Vom Ausschuß wurde die Crème de la crème der deutschen Politik und Finanzwirtschaft vorgeladen. Selbst Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Kanzlerin Angela Merkel wurden in stundenlangen Sitzungen 

befragt. Den Präsidenten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Felix Hufeld, kostete der Milliarden-Betrug Amt und Reputation. 

Die privaten Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY), die die Wirecard-Bilanzen absegneten, gaben sich ahnungslos – obwohl die Londoner Financial Times seit Jahren über Unregelmäßigkeiten groß berichtete. Deutsche Stellen hielten sich nicht für verantwortlich und standen daher weitgehend tatenlos am Spielfeldrand herum. Das freie Feld nutzten nur Markus Braun und der seit einem Jahr verschwundene Finanzvorstand Jan Maršálek, um den einstigen Dax-Konzern listig in ein Pleiteloch von 1,9 Milliarden Euro zu manövrieren.

Laut Olaf Scholz trägt die Bundesregierung für den Betrug keine Verantwortung. Auch Christof Schulte, Chef der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen (Financial Intelligence Unit/FIU) sieht sich schuldlos: Seiner Behörde hätten keine Hinweise auf strafbares Verhalten im Inland vorgelegen – für Geldwäsche im Ausland sei man hingegen nicht zuständig. Allerdings wurde Schulte in der letzten Ausschußsitzung mit Berichten konfrontiert, wonach die Commerzbank ihm 2019 eine Liste mit 343 verdächtigen Zahlungen zukommen ließ.

Fabio De Masi, einer der wenigen Finanzexperten der Linken, bezeichnete diese als eine „idiotensichere Ausarbeitung“. Dennoch blieb die Liste 16 Monate folgenlos. Erst als die Wirecard-Pleite feststand, leitete die FIU diese Informationen an die zuständigen bayerischen Behörden weiter. „Statt nach Möglichkeiten zu suchen, um aufsichtsrechtlich tätig zu werden, suchte man nach Gründen, um nicht tätig zu werden“, heißt es im Sondervotum der gelb-rot-grünen Opposition. Besonders brisant: Eine der verdächtigen Zahlungen führt zu Equinia Services aus Singapur. Von dort seien 50 Millionen Euro im Dezember 2018 auf ein Wirecard-Konto überwiesen worden, das Citadelle Corporate Services gehörte – das ist jener „Treuhänder“, der für Wirecard angeblich 1,9 Milliarden Euro verwaltete, die aber bis heute nicht auffindbar sind.

FDP, Linke und Grüne sprechen vom größten Börsen- und Finanzskandal der Nachkriegszeit, der durch ein kollektives Aufsichtsversagen, eine „deutsche Wagenburgmentalität gegenüber Nichtdeutschen“ sowie ein politisches Netzwerk sowie die Sehnsucht nach einem digitalen nationalen Champion ermöglicht worden sei. Im Zentrum ihrer Kritik steht Kanzlerkandidat Scholz. Er sei schließlich oberster Chef von Bafin und FIU. Ähnlich sieht es auch die AfD – es ist schließlich Wahlkampf.

Und so bekommt auch der Wirtschaftsminister sein Fett ab. Als Zuständiger für die Abschlußprüferaufsicht APAS habe Altmaier die Aufsicht von EY &Co. vernachlässigt. Sein Ressort habe dem nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet und sich kaum einsichtig für nötige strukturelle Veränderungen gezeigt. Gemächlich wie bei den Auszahlungen der Corona-Hilfen gehe es im Altmaier-Ministerium zu.

Lupenreine Testate von privaten Wirtschaftsprüfern?

Und was haben die 51 Ausschußtermine zur Aufklärung beigetragen? Neben 102 Zeugen wurde ein Aktenberg in der Größe von 1,14 Terabyte (TB) herangezogen. Das Finanzministerium lieferte dabei 1.436 klassische Aktenordner. Politische Konsequenzen gab es kaum, doch der Abschlußbericht könnte für Anleger relevant sein, die EY auf Schadensersatz verklagen. Sämtliche Abgeordneten des Untersuchungsausschusses kritisieren die Arbeit der Bilanzkontrolleure: „Die vom Wirtschaftsprüfer EY jahrelang erteilten lupenreinen Testate führten aufgrund des durch sie geschaffenen Vertrauenstatbestands regelmäßig zu einer Zerstreuung der Vorwürfe. Dies trug wesentlich dazu bei, daß die kritische Berichterstattung über einen langen Zeitraum nicht die Aufmerksamkeit bekam, die sie aus Ex-post-Sicht verdient gehabt hätte“, heißt es im Bürokratendeutsch von Union und SPD. Die AfD wird deutlicher und kritisiert, daß EY von Rechnungslegungs- und Prüfungsstandards abgewichen und Interessenkonflikten erlegen sei. 

Behördenversagen sehen die schwarz-roten Koalitionäre hingegen nicht: „Nach geltendem Recht war die Durchführung einer eigenen Bilanzkontrolle bei der Wirecard AG durch die BaFin nicht möglich.“ Die SPD betont sogar, Scholz habe die notwendigen Reformen auf den Weg gebracht – damit die BaFin künftig schlagkräftiger werde und ein zweiter „Fall Wirecard“ sich möglichst nicht wiederhole. CDU- und CSU-Abgeordnete widersprachen selten – schließlich waren diverse Unionspolitiker für Wirecard als Lobbyisten tätig.

Untersuchungsausschuß zum Wirecardskandal: www.bundestag.de

Foto: Ex-Vorstandschef Markus Braun vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuß des Bundestages: Vom medial gefeierten „Aufsteiger des Jahres 2018“ und zeitweisen Börsenmilliardär zum Untersuchungshäftling in der JVA Ausburg-Gablingen