© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

„Die Rente mit 68 reicht nicht“
Alterseinkommen: Einschneidende Reformvorschläge des Beirats beim Wirtschaftsministerium / Lebenserwartung und Eintrittsalter fest koppeln?
Fabian Schmidt-Ahmad

Vor 35 Jahren plakatierte der CDU-Wahlkämpfer Norbert Blüm: „... denn eins ist sicher: Die Rente“. Im Januar 1987 gewann dann erneut die Union die Bundestagswahl. Und entgegen den Behauptungen von SPD, FDP oder Wirtschaftslobbyisten hatte der damalige Sozialminister damals nicht zu viel versprochen: Wer in den neunziger Jahren mit 62 oder 63 Jahren in Rente ging, hatte in der Regel für zwei Jahrzehnte ein auskömmliches Altersruhegeld aus der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV).

Das traditionelle GRV-Umlagesystem – die arbeitende Generation zahlt die aktuelle Rente der Senioren – ist weiterhin prinzipiell „sicher“. Fraglich sind aber inzwischen Rentenhöhe, Eintrittsalter und der Zuschuß aus dem Bundeshaushalt – dies waren 2019 immerhin 77,6 der 324,8 Milliarden Euro an jährlichen GRV-Ausgaben. Um dies für die 21,2 Millionen Alters- und Invalidenrentner nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, steigt das Renteneintrittsalter weiter an: Wer vor 1947 geboren wurde, konnte noch mit 65 Jahren ohne empfindliche Kürzungen in Rente gehen. Diese Grenze steigt schrittweise an: Der Jahrgang 1964 kann erst mit 67, also 2031, abschlagsfrei in Rente gehen.

Doch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hält eine Anpassung des Rentenzugangsalters auch nach 2031 für „unerläßlich“. Daher „sollte bei einem Anstieg der Lebenserwartung um ein Jahr die Erwerbsphase um acht Monate verlängert werden“, heißt es in den „Vorschlägen für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“. Der Beirat, in dem drei Dutzend Ökonomieprofessoren um Axel Börsch-Supan (TU München) und Klaus M. Schmidt (LMU München) versammelt sind, schätzt, daß die mittlere Lebenserwartung „zwischen 2030 und 2050 um weitere 2,4 Jahre ansteigt“.

Davon ausgehend ergebe sich eine Regelaltersgrenze, die „im Jahr 2040 bei 67,8 Jahren und 2050 bei 68,6 Jahren“ liege. „Ergänzend dazu sollte die Definition der Standardrente an das gestiegene Renteneintrittsalter angepaßt werden“, empfiehlt der Beirat. Zielsetzung sei dabei, „das heutige Verhältnis von Arbeitsjahren und Rentenbezugsjahren in etwa konstant zu halten“ – sprich: Die GRV-Beiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen nicht spürbar steigen. Durch diese Koppelung könne das Regeleintrittsalter sogar wieder sinken, wenn die Lebenserwartung abnimmt.

Unklar ist, wie schnell eine Anpassung erfolgen soll. Und manchem geht dieses Modell längst nicht weit genug: „68 reicht nicht“, kommentierte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW-Kurzbericht 34/21) den Reformvorschlag. Mit der fortschreitenden Alterung und bei einer Rente mit 67 müsse der GRV-Beitragssatz von 18,6 auf 22,1 Prozent im Jahr 2040 und 23,6 Prozent im Jahr 2060 steigen. Doch das arbeitgeberfinanzierte IW formuliert gleich eine Lösung: „Mit einer fortgesetzten Anhebung der Regelaltersgrenze bis auf 70 Jahre ab 2052 ließe sich der Beitragssatzanstieg aber bremsen und gleichzeitig das Sicherungsniveau stabilisieren.“ Sprich: Der spätere Renteneintritt sichere zugleich auch die Rentenhöhe ab.

„Renteneintrittsfenster“ für Arbeitsmüde und Freizeitliebende

Da Rentendiskussionen über Wahlen entscheiden können, versucht der Beirat des Ministeriums von Peter Altmaier (CDU) den späteren Ruhestand mit statistischen Argumenten schmackhaft zu machen: Die „Lebenserwartung frei von Funktionseinschränkungen und Krankheit“ werde als die Zeit zwischen dem Alter von 65 Jahren bis zum Eintreten der ersten Einschränkung von Aktivitäten des täglichen Lebens beziehungsweise einer chronischen Krankheit definiert. Das seien in Deutschland weiterhin im Mittel sieben Jahre.

Aber warum überhaupt Wähler mit einer Rente mit 68 oder gar 70 verschrecken? Dies könne durch das Konzept eines „Renteneintrittsfensters“ ersetzt werden, innerhalb dessen die Versicherten ihr Eintrittsalter frei wählen und damit auch ihre Rentenhöhe bestimmen können, so der Beirat. Die starre Regelaltersgrenze werde den Bedürfnissen ohnehin nicht mehr gerecht: „Menschen können mehr oder weniger gesund, arbeitsmüde, freizeitliebend oder am Beruf hängend sein.“ Da sich diese Rentenfreiheit wohl nur wenige leisten können, sollten alle Hinzuverdienstgrenzen fallen. Das mache es auch leichter, „erfahrene Fachkräfte länger im Betrieb zu halten“.

Auf kontroverse Themen wie verstärkte Einwanderung oder Geburtenförderung geht der Beirat nicht ein. Ebenso fehlt ein Blick in die EU-Länder, denn der dürfte wohl für Neid sorgen: Die Durchschnittsrente liegt in Österreich bei 1.898 Euro. Da es zudem je eine Monatsrente Urlaubs- und Weihnachtsgeld gibt, summiert sich das auf jährlich 26.577 Euro. In Deutschland erhält der GRV-Rentner nach 45 Beitragsjahren nur 1.513 Euro bzw. 18.155 Euro jährlich – also letztlich unter dem Strich 700 Euro monatlich weniger. Auch die umstrittene Grundrente von 880 Euro liegt in Österreich mit 1.114 Euro spürbar höher.

Allerdings sind auch die Beiträge dort signifikant höher: Arbeitnehmer müssen 10,25 und Arbeitgeber 12,55 Prozent des Gehalts ins umlagefinanzierte Rentensystem einzahlen – das sind zusammen 22,8 Prozent, und damit weit mehr als der GRV-Spitzenbeitrag von 20,3 Prozent aus dem Jahr 1997. Auch das tatsächliche Renteneintrittsalter (Deutschland: 64 Jahre bei Männern, 63,6 Jahre bei Frauen) liegt in den EU-Ländern oft niedriger: In Belgien, Luxemburg und Frankreich oder den Euro-Krisenländern Spanien und Griechenland sind es zwischen 60 und 63 Jahren. Großbritannen liegt auf deutschem Niveau. In Skandinavien, der Schweiz und Irland sind es bis zu drei Jahre mehr als hierzulande. Perspektivisch planen fast alle EU-Länder bis 2030 eine Regelaltersgrenze von 65 bis 67 Jahren – wenn die dortigen Wähler oder „Gelbwesten“ keinen Strich durch die Rechnung machen. 

„Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“ des Ökonomen-Beirats: bmwi.de