© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Warten auf den nächsten Sturm
Illegale Migration: Auf der griechischen Insel Kos ist es „deutlich ruhiger“ geworden, doch die Furcht bleibt
Hinrich Rohbohm

Der Wind hat sich gelegt. Auf dem Deck des noch bis vor kurzem wie verschlafen wirkenden, im Hafen der südägäischen Insel Kos vertäuten Patrouillenbootes der griechischen Marine bricht Aktivität aus. Die Mannschaft macht das Schiff zum Auslaufen bereit. Ihre Fahrt wird kurz sein. Gerade einmal vier Kilometer sind es bis zur türkischen Küste von Bodrum. Nur die Hälfte davon wird die Besatzung zurücklegen. Bis zur Grenze, um Ausschau nach Migranten zu halten, die von der Türkei aus in die EU gelangen wollen. Jeden Tag geht das so. Wenn der Wind abflaut und die See ruhig ist. Dann ist die beste Zeit für Migranten, sich mit ihren Schlauchbooten auf den Weg hinüber nach Europa zu machen.

„Es ist aber deutlich ruhiger geworden“, sagt Dimitrios (Name geändert) über die Einsätze in der Ägäis. Er sagt das nicht ohne einen deutlich erkennbaren Anflug von Stolz, als wir uns mit ihm in einem Restaurant neben den Ruinen der antiken Agora unterhalten. Der junge Mann gehört zur Besatzung jenes Patrouillenbootes. Unautorisiert mit Außenstehenden über seine Einsätze sprechen darf er eigentlich nicht. Nur unter Zusicherung von Anonymität ist er bereit, einen Einblick in das Alltagleben der maritimen Grenzkontrolleure in der Ägäis zu geben.

Abgelehnte Asylbewerber werden verstärkt in die Türkei abgeschoben 

Darüber zu reden, wie frustriert viele seiner Kollegen waren, weil sie sich von der Politik im Stich gelassen fühlten, als zwischen 2015 und 2019 Zehntausende Migranten per Schlauchboot illegal von der Türkei nach Griechenland kamen.

„Wenn wir unsere Aufgabe erfüllten und Migranten zurückwiesen, dann haben wir auf Anordnung der Politik gehandelt. Aber für jede kritische Situation wurden wir verantwortlich gemacht, nicht die Politiker. Dabei ist es doch nicht die Aufgabe von Küstenwache, Marine oder Frontex, die Migrationskrise zu lösen. Das ist die Aufgabe der Politik.“ Die sei aber während der Tsipras-Ära stets abgetaucht, statt sich vor die Grenzkontrolleure zu stellen, meint Dimitrios. 

„Viele von uns hatten Tsipras für seine Politik heimlich verflucht“, erzählt er von der Stimmung bei den Einsätzen an Bord. Der Grund: „Um die Seegrenze wirksam zu schützen, hätten wir wesentlich mehr Patrouillenboote benötigt. So konnten wir unserer Aufgabe unmöglich gerecht werden“, klagt Dimitrios an. Tatsächlich waren während der Tsipras-Regierung zwischen 2015 und 2019 gerade einmal 1.800 illegale Migranten in die Türkei zurückgebracht worden, während die Zustände in den Aufnahmelagern der Inseln Lesbos, Samos, Chios und Kos immer katastrophalere Ausmaße annahmen.

Inzwischen habe sich die Lage in der Ägäis deutlich entspannt. Und das, obwohl die Zuwanderung gerade wieder kräftig Fahrt aufnimmt. Die Kanarischen Inseln verzeichnen einen noch nie dagewesenen Ansturm vom afrikanischen Kontinent, wodurch sich vor allem die Urlauberinsel Gran Canaria zu einem Pulverfaß zu entwickeln droht. Erst vor wenigen Wochen war die spanische Exklave Ceuta von 8.000 Schwarzafrikanern regelrecht überrannt worden, nachdem es zwischen Spanien und Marokko zu diplomatischen Verstimmungen gekommen war. Auch auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa und an den Küsten Siziliens gewinnt die Migration aus Afrika gerade wieder an Dynamik.

Doch während sich die Zuwanderung in Spanien und Italien verschärft, beginnt sie sich in der Ägäis deutlich zu entspannen. Dabei hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch vor einem Jahr damit gedroht, den EU-Türkei-Deal aufzukündigen und die knapp vier Millionen sich in der Türkei aufhaltenden Migranten weiter nach Europa ziehen zu lassen. Das Vorhaben scheiterte nicht zuletzt daran, daß die neue griechische Regierung mit deutlich härteren Maßnahmen zur Grenzsicherung regierte.

„Die neue Regierung geht deutlich entschiedener gegen illegale Migration vor“, bestätigt auch Dimitrios. So wurden nicht nur die Grenzpatrouillen verstärkt, sondern auch geschlossene Lager für illegale Migranten auf den Inseln eingeführt.

Zudem habe die Corona-Pandemie mit dazu beigetragen, daß sich seit Frühjahr vorigen Jahres für Migranten immer weniger Möglichkeiten boten, von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. „Der gesamte Fährverkehr von Bodrum nach Kos ist seit der Pandemie eingestellt“, sagt Theofanis, ein 35 Jahre alter Barbesitzer im Stadtzentrum von Kos.

 „Es kommen keine Boote mehr von der Türkei. Keine Boote, keine Migranten“, verdeutlicht er den Umstand, daß bei weitem nicht jeder mit dem Schlauchboot versucht, in die EU zu gelangen.

Tatsächlich sind heute im Hafen von Kos kaum noch Migranten anzutreffen. Am Kiesstrand, unmittelbar vor den Mauern der alten Johanniter-Festungsruine, kampierten 2015 noch Hunderte von ihnen. Auch noch 2019 versuchten Migrantengruppen regelmäßig ungesehen auf die zweimal täglich ankommende Fähre Richtung Festland zu gelangen. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Im einst überfüllten Migrantencamp von Pili, in den Bergen fernab der Touristenorte, halten sich nur noch knapp 300 Migranten auf. Vor zwei Jahren waren es noch über 3.000.

 „2015 hatte uns hart getroffen, die ganze Insel war voll von Migranten, und die Regierung in Athen, aber auch die EU ließen uns mit den Problemen allein zurück“, beklagt auch Theofanis. Zwei Jahre später suchte ein starkes Erdbeben die Insel heim. Die Risse in zahlreichen historischen Gemäuern sind noch heute sichtbar. „Und dann auch noch die Pandemie. „Für die Menschen hier ist es ein Lichtblick, daß wir nun zumindest bei der Zuwanderung entlastet werden.“

Tatsächlich sind die auf den ägäischen Inseln verbliebenen Migranten von knapp 40.000 im April vorigen Jahres auf unter 11.500 im April dieses Jahres zurückgegangen. Unbegründete Asylbewerberwürden jetzt verstärkt in die Türkei abgeschoben, Asylberechtigte von den Inseln aufs Festland oder direkt nach Europa gebracht.

 Was das für Deutschland bedeuten kann, wird allein anhand der knapp 4.000 Familien mit Kindern und unbegleiteten Minderjährigen deutlich, die auf die einzelnen EU-Länder verteilt wurden. 2.700 von ihnen kamen in die Bundesrepublik. Das entspricht einem EU-Anteil von 67,5 Prozent.

 Damit illegale Migration von der Türkei auf die ägäischen Inseln künftig wirkungsvoller unterbunden wird, soll Frontex von 1.500 auf 10.000 Mitarbeiter bis zum Jahr 2027 aufgestockt werden. Auf Kos genießt die Agentur einen vorwiegend guten Ruf. „Sie helfen, unsere Grenzen zu schützen, das wissen wir zu schätzen“, sagt Theofanis. Wie er denken viele auf der Insel.  

„Haben wir keinen wirksamen Grenzschutz, ist die EU erpreßbar“

Auch Dimitrios lobt die „harmonische Zusammenarbeit“ mit Frontex. „Sie unterstützen uns mit Hubschraubern und Aufklärungsflugzeugen, leisten für uns dadurch wertvolle Arbeit, illegale Grenzübertritte rechtzeitig zu erkennen.“

 Kritik kommt dagegen vom Europäischen Rechnungshof. Frontex habe „bislang nicht den von ihr erwarteten Beitrag zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung und grenzüberschreitenden Kriminalität geleistet“, die Unterstützung für die Nationalstaaten sei „nicht wirksam genug“, schreibt die Behörde in einem Sonderbericht von dieser Woche, in dem sie vor allem „organisatorische Defizite“ in der Personalplanung bemängelt. Genau die aber ist entscheidend für die künftig stärkere Präsenz vor allem im Mittelmeer.

 „Eine höhere Präsenz sehen Schleuser und Flüchtlingshelfer überhaupt nicht gern“, schildert ein Frontex-Mitarbeiter gegenüber der JF. Denn: „Ist die Pandemie überwunden, müssen wir wieder mit einem rasanten Anstieg der Migrantenzahlen rechnen. Auch könnte Erdoğan dann jederzeit aufs neue Migranten als Druckmittel zur Durchsetzung von Forderungen nutzen. Haben wir dann keinen wirksamen Grenzschutz, ist die EU erpreßbar.“

 Seine Vermutung: „Die Diskussion um angebliche Pushbacks bei Migranten wird vor allem von linken NGOs angeheizt. Ihr Ziel ist die Abschaffung von Frontex.“ Linke Organisationen wie Mare Liberum, Border Violence Monitoring oder das von der Kahane Foundation und der Stiftung :do finanzierte Mobile Info-Team versuchen derzeit, Frontex illegale Aktionen nachzuweisen, um die EU dazu zu bewegen, die Agentur aufzulösen.

 „Du bist da draußen auf dem Meer auf dich gestellt und mußt schnell Entscheidungen treffen. Da kommt es auch mal zu grenzwertigen Situationen, die jede Seite unterschiedlich für sich auslegt“, erklärt uns der Frontex-Mitarbeiter. Und sagt auch: „Wenn wir unsere Arbeit ordentlich erledigen sollen, dann brauchen wir die Rückendeckung der Politik. Sonst macht das alles wenig Sinn.“ Zumindest in Griechenland scheint man sie derzeit zu haben.

Foto: Blick von Kos auf das nahe gelegene türkische Festland: Ein Schiff der griechischen Küstenwache patrouilliert in der Meerenge. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex unterstützt diese Arbeit