© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Bleib, wer du bist
Lob der Antiquiertheit: In einer Welt, in der alle nur noch ein großes Wir sind, genormt und behütet von den Aufsichtsräten unseres totalen Glücks, wird die Freiheit nicht mehr vermißt
Eberhard Straub

Die Neuzeit legitimiert sich durch ihre dauernde Selbstüberholung zur allerneuesten Neuzeit. Ununterbrochen müssen alte Zöpfe abgeschnitten und Innovationen gewagt werden, um nicht in verkrusteten Strukturen den Anschluß an die schnell wechselnden Herausforderungen der vorwärtsdrängenden Zeiten zu verpassen. Wer rastet, der rostet. Wer sich weiterhin nach der erprobten römischen Weltklugheit richtet – „Eile mit Weile und denke erst, bevor du redest“ – bestätigt, den Aufgaben mitten im rapiden gesellschaftlichen Wandel gar nicht gewachsen zu sein. Alles Alte ist schon aufgrund seines Alters verdächtig, und alles Neue wirkt verheißungsvoll, weil noch unverbraucht und voller möglicher Überraschungen.

Auch die Normalität, die wie ihr Name andeutet auf Normen, Traditionen und bewährten Übereinkünften beruht, kann nur noch als „neue Normalität“ überzeugen, wobei ziemlich ungewiß bleibt, was darunter zu verstehen ist. Denn unklare Bestimmungen und dehnbare Begriffe gehören ja zum Pathos der jüngsten Moderne, die sich um „das Leben“, „die Natur“ und die totale Gesundheit beider sorgt. „Der Mensch“ soll im Einklang mit diesen Übermächten bleiben und nicht weiter mit seiner Selbstherrlichkeit Unheil stiften, Harmonien durcheinanderbringend, statt sie zu seinem Glück zu nutzen. Die Weltgeschichte war allerdings nie der Boden des Glücks, wie Hegel bemerkte in Übereinstimmung mit allen Philosophen und Historikern, die seit der griechisch-römischen Antike über den Menschen, über die Welt und die Stellung des Menschen in der Welt im Laufe der Zeiten nachdachten. Glück ist überhaupt keine Kategorie in der Geschichte.

Die Kultur verleiht dem Menschen einn besondere Würde

Die europäische Geschichte war aber immer, seit den Griechen, Römern und Germanen, eine Geschichte der Freiheit in unterschiedlichen Formen.Die Europäer brauchten nicht nach Glück zu streben, solange ihre Freiheiten und damit ihre Rechte, nicht gestört oder gar aufgehoben wurden. Sobald sie Gefahr liefen, in Unfreiheit zu geraten, fühlten sie sich unglücklich und kündigten den Herren, welche willkürlich in die Freiheitsordnung eingriffen, den Gehorsam und entschlossen sich damit zum Widerstand. Freiheit und Widerstandsrecht gehören unmittelbar zusammen. Denn die Freiheit in mannigfachen rechtlichen Variationen zeichnete den attischen oder römischen Bürger aus, die verschiedenen Philosophen und sämtliche Christen, die durch Christus als Befreier zur inneren Selbstbestimmung als Ebenbild Gottes berufen waren, was sie zu wahren Menschen machte jenseits der natürlichen Begrenzungen.

Der freie Mensch hatte nie etwas mit der Natur und dem vor sich hin taumelnden Leben zu tun, sondern mit seiner zweiten Natur, der von ihm geschaffenen Kultur. Sie verlieh ihm eine besondere Würde und befreite ihn aus niederdrückenden, entwürdigenden Abhängigkeiten. Die Kultur hat es mit Regeln, Gesetzen, Geschmack, mit Ordnung und Proportionen zu tun, mit Kräften, die dafür sorgen, im gesellschaftlichen Miteinander das Rechte und Passende mit ihrer formalen und vernünftigen Zucht vor dem Einbruch unberechenbarer Leidenschaften, törichter Anmaßung und hochmütiger Dummheit zu schützen.

Auch der Staat und der Rechtsstaat bis ins 19. Jahrhundert hatten einmal Anteil an der Civilitas, die keineswegs die „Zivilgesellschaft“ von heute meinte, sondern eine urbane, weltkluge Umgänglichkeit, auf die gerade Politiker achten sollten, um eben aus „politesse“–  daher ihr Name – sich nicht moralisch empört die Kleider wechselseitig vom Leibe zu reißen, sobald sie verschiedener Meinungen waren.

Die Politik und der gegenüber dem Parteigezänk möglichst neutrale Staat fügten sich lange den Zumutungen des guten Geschmacks, der Höflichkeit und der Humanität, die alle zusammen zu Hütern der Freiheit bestellt waren. Die Achtung voreinander galt als Voraussetzung dafür, das ohnehin stets dramatische Zusammenleben der vielen Eigenwilligen möglichst zu entspannen. In diesem Sinne riet Martin Luther, der praktische Seelsorger, jedem Christen und Mitglied von ihn umfassenden Gemeinschaften: „Laß einen jeden sein, was er ist, / So bleibst du auch wohl, wer du bist.“

Eine solche Empfehlung wirkt mittlerweile vollkommen weltfremd, weil es überhaupt keine verbindliche Vorstellung mehr über den Menschen, seine Würde und seine Freiheit gibt. Deshalb können nahezu ungehindert Parteien, Behörden, Minister, Journalisten, Verbände und alle weiteren Sinnstifter jedem in sein ureigenes Leben hineinreden, in der Absicht, keinen so zu lassen, wie er ist, um ihn bequem als effizientes Funktionselement in das gesellschaftliche System einzupassen.

Die alte Devise klassischer Freiheit des Menschen – „Einem anderen gehöre nicht, wer sein eigener Herr sein kann“– ist mittlerweile veraltet und nahezu sozialschädlich. Unermüdlich halten Anthropologen, Philosophen, Verhaltensforscher und die Maulwerksburschen in den Medien die Menschen dazu an, sich als Bruder der Graugans nicht allzu wichtig zu nehmen. Denn die Vorstellung von einer unverwechselbaren Person mit ihrem Eigentum sei nicht einmal eine liebenswürdige Illusion. Sein minimal self jenseits von Freiheit und Würde ist eingebunden in Strukturen mit ihrem Eigenleben, das dem zur Zerstreuung neigendem sogenannten Ich, wenn es sich ihnen vertrauensvoll einfügt, erst eine gewisse Konsistenz verleiht. Auch die heute so oft beschworene Authentizität sei nur eine Einbildung, denn jeder Einzelne ist bloß eine Durchgangsstation für Strömungen, Einflüsse und Bewegungen, die wichtiger sind als sein harmloses und fiktives Ich.

Das Selbst, die Person, sind Täuschungen. Verliert das Menschenbild jede Kontur und wird die Freiheit zur Täuschung, entschwindet auch die Wirklichkeit. Zukunftsgestalter planen die großen, notwendigen Transformationen, den totalen Umbau sozialer Beziehungen, die den Menschen auf sein bloßes Menschsein reduzieren, das sämtliche Unterschiede aufhebt. Den Menschen auf sein nacktes Menschsein zu begrenzen, auf seine animalische Befindlichkeit, verdunkelt das Majestätsrecht des Ebenbildes Gottes, Person zu sein, in der sich Mannigfaches zu einer proprietas, zu einer unterscheidbaren Eigentümlichkeit zusammenschließt. Deshalb mochten die alten, ehedem verpflichtenden Menschenbilder, von denen auch noch die Verfasser des Grundgesetzes geprägt waren, sich beim besten Willen nicht damit begnügen, daß es die Bestimmung „des Menschen“ sei, glückselig ich-entronnen in der politisch-ökonomischen Solidargemeinschaft mitzuschwingen.

Eine Furcht vor einer solchen neuen und deshalb unbedingt schönen Welt plagte antiquierte Menschen wie Aldous Huxley („Schöne neue Welt“) und Jewgenij Samjatin („Wir“). In einer Welt, in der alle nur noch ein großes Wir sind, genormt, behütet und beaufsichtigt von Beschützern, den Aufsichtsräten unseres totalen Glücks in totaler Selbstvergessenheit, wird die Freiheit nicht mehr vermißt. Sie ist obsolet geworden wie die Vergangenheit, in der sie so viele Irritationen verursachte. Die antiquierte Freiheit wird ersetzt durch das neue Behagen, das innigste Übereinstimmung mit dem Gesellschaftsplan als Heilsplan gewährt. In dieser Solidargemeinschaft darf jeder tun, was er soll. Alle finden, in dauernder Unreife und Angst gehalten, zu ihter wahren Bestimmung, im großen Ganzen geborgen zu sein.

Umschlag der Demokratie in eine neue Despotie

Die moralische Idee erschöpft sich in der Pflicht zur physischen und geistigen Gesundheit wehrhafter Demokraten. Der Sinn des Daseins liegt im funktionierenden Wohlbefinden des sozialen Organismus und seiner Zellen. Das Leben ist der Güter höchstes und unseres Glückes Unterpfand geworden. Im Namen des Lebens und der Gesundheit, jenseits von Freiheit und Würde, soll jeder sein Ich auslöschen in einer stillen und nachhaltigen Selbstentwürdigung ohne Qualen, die es endlich ermöglicht, daß die so Enteigneten ihren beharrlich überredenden Enteigner lieben, ihm danken, und sich hingebungsvoll seinem wohlmeinenden Plan einfügen. Nur diese Liebe, die einzig geduldete, ja erwünschte, weil das Ich vergesellschaftend, ist in der schönen neuen Welt mit ihrer neuen Normalität zugelassen.

Alexis de Tocqueville, der große Historiker und Analytiker der Demokratie in den USA, der glühende Liebhaber der Freiheit, fürchtete 1840 eine solche Zukunft als Umschlag der Demokratie in eine neue Despotie, hoffte aber, daß es genug Freunde der Freiheit geben würde, die sich erfolgreich gegen eine solche „Zukunftsgestaltung“ wehren könnten. Pierre-Joseph Proudhon, ein anderer leidenschaftlicher Freund der Freiheit, jetzt von links, verzweifelte um die gleiche Zeit unter der ausgreifenden Tätigkeit des modernen, sich demokratisierenden  Überwachungsstaates, der sich in alles einmischt und auch in die Privatheit aggressiv eindringt. Regiert zu werden, das hieß für ihn, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft beobachtet, erfaßt, beurteilt, ermahnt sowie korrigiert und im Namen des Gemeinwohles bevormundet, verbessert, getadelt, diffamiert und endlich kriminalisiert zu werden. Voller Verzweiflung rief er letzten Menschen zu, die an den antiquierten Vorstellungen von Privatheit, Individualität, Freiheit und Wirklichkeit festhielten: „Wir sehen nicht die Morgenröte einer neuen Zeit; wir kämpfen mitten in der Nacht. Wir müssen, wenn wir klug sind, stille halten und unsere Pflicht tun, um dieses Leben trotz fast zermürbender Trauer auf uns zu nehmen; stehen wir einander bei, rufen wir einander im Dunkel und sorgen wir uns, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet, um die Gerechtigkeit: das bleibt als Trost der verfolgten Tugend.“ Es gibt keinen Grund, diese schreckliche Sorge für antiquiert zu halten.