© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, der T-34 und die Breitspur
Mehr Grund als Napoleon
Lothar Höbelt

Sie werden vielleicht noch manchen Krieg erleben, aber niemals wieder eine so interessante Zeit!“, versprach Churchill seinem Sekretär „Jock“ Colville am Vorabend des 22. Juni 1941. Dennoch blieb das „Unternehmen Barbarossa“ bis zu einem gewissen Grad ein Stiefkind der Forschung, weil man hier – im Unterschied zum D-Day oder dem Wüstenkrieg – lange nur einer Seite in die Karten schauen konnte. Über manche Entwicklungen herrscht noch immer keine restlose Klarheit.

Freilich nicht, was die Kriegsursachen betrifft: Paul Schroeder, der vor kurzem verstorbene Doyen der Forschungen zur Geschichte der internationalen Beziehungen, hat einmal formuliert: Hitler hätte sowohl mehr Grund als auch mehr Chancen für seinen Rußlandfeldzug gehabt als Napoleon. Der Konflikt zwischen den beiden Kontinentalkolossen, der im Ersten Weltkrieg mit einer Niederlage beider Reiche endete, ging in seine zweite Runde. Die ideologischen Momente, die sich seit 1917 und 1933 auftürmten, vom Antikommunismus bis hin zur fixen Idee Hitlers, agrarische Überschüsse und „Lebensraum im Osten“ erobern zu müssen, kamen als Zusatzreiz in Betracht.

Der totalitäre Charakter beider Regimes zog nicht bloß die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft, die zwischen Partisanen und Repressalien, Jagd auf Juden und ethnischen Säuberungen, wirtschaftlicher Dislokation und Hungersnot ein grausiges Schicksal erwartete, sondern – und darin lag das Spezifikum – auch die Kombattanten. Selbst die Heere in der Endphase des für seine Greuel berüchtigten Dreißigjährigen Krieges hatten Wert gelegt auf korrekte Behandlung von Gefangenen und „Ranzionierungskartelle“ vereinbart, die auf Reziprozität beruhten.

Doch an einem solchen Anreizsystem waren diesmal beide Machthaber nicht interessiert. Stalin betrachtete Sowjetmenschen, die sich gefangennehmen ließen (inklusive seines eigenen Sohnes), als Hochverräter, deren Angehörigen die Sippenhaft drohte. Auch das „Dritte Reich“ propagierte den unterschwelligen Slogan: Der deutsche Soldat kämpft bis zur vorletzten Patrone. Die Sowjet­union hatte die Haager Konvention nie unterzeichnet. Als die Achsenmächte über Neutrale – damals auch noch die USA – zumindest einen Austausch der Gefangenenlisten vorschlugen, lehnte Molotow das Angebot ab, wie Sean McMeekin in seinem jüngsten Buch „Stalin’s War“ belegt.

Der weltanschauliche Antagonismus war allerdings ganz offensichtlich auch kein Hindernis für gelegentliche Zusammenarbeit. Gerade totalitäre Systeme waren jederzeit für überraschende Kehrtwendungen gut, wie sie George Orwell in seinen Büchern aufs Korn genommen hat. Aus deutscher Sicht sprach für die Sowjetunion, daß sie – im Unterschied zum Zarenreich – kein verläßlicher Verbündeter Frankreichs mehr war, aber ein verläßlicher Gegner eines unabhängigen Polen blieb. Für Stalin wiederum mochte sich Deutschland als „Eisbrecher“ gegen die kapitalistische Welt als nützlich erweisen. Wenn Hitlers Langzeitplanungen um einen Vernichtungsschlag gegen die Sowjetunion kreisten, dann war dieses Konzept 1939 zunächst einmal gescheitert. Erst der überraschende Fall Frankreichs 1940 gab ihm erneut eine Chance.

Auf der anderen Seite legte der fortdauernde Widerstand Englands und die Wahrscheinlichkeit, daß die USA den Briten früher oder später zu Hilfe kommen würden, den Schluß nahe, das „window of vulnerability“ zu nützen, um die offene Flanke im Osten zu schließen. Andreas Hillgruber hat diese Überlegungen schon 1965 präzise herausgearbeitet. Dagegen gibt es nicht den geringsten Hinweis, daß die Vorstellung, einem unmittelbar bevorstehenden russischen Angriff zuvorkommen zu müssen, bei den Überlegungen der deutschen Führung eine Rolle spielte. Präventivkrieg war der Rußlandfeldzug für Hitler keiner – allenfalls in dem Sinn, wie jeder Krieg ein Präventivkrieg ist, weil er einen potentiellen Gegner ausschaltet (es fragt sich nur: für wie lange?). Zuvorkommen wollte er mit „Barbarossa“ dem absehbaren Kriegseintritt der USA, nicht der Sowjetunion.

Über Stalins Erwägungen sagt dieser Befund freilich noch nichts aus: Es hat – vom spanisch-französischen Hegemonialkampf 1635 angefangen – immer wieder Situationen gegeben, wo zwei gleichzeitig in Szene gesetzte Offensiven aufeinanderstießen. Skrupel wird man weder dem einen noch dem anderen „Warlord“ unterstellen, die ein tschechischer Kollege einmal beide zur Spezies Tyrannosaurus Rex gerechnet hat.

Leider liegen für Stalins Pläne weniger verläßliche Quellen vor. Die Großen Säuberungen in der Sowjetunion warfen da einen viel längeren Schatten als die Fritsch-Krise in Deutschland. Abwägende Memoranden unter Betonung von Pro- und Contra-Argumenten konnten im Kreml leicht mißverstanden werden. Pläne für jeden nur möglichen Kriegsfall in der Schublade zu haben aber gehört zum selbstverständlichen Einmaleins jedes Generalstabs.

Die meisten einschlägigen Zitate Stalins wiederum sind vom bloßen Hörensagen auf uns gekommen. Darunter findet sich die Aussage, man müsse jederzeit für einen Offensivkrieg gerüstet sein, genauso wie die Warnung, man dürfe sich nur ja nicht provozieren lassen. Genaugenommen nicht viel mehr als Selbstverständlichkeiten.

Nun werden Großmächte selten von überzeugten Pazifisten regiert. Es geht meist nicht um die prinzipielle Frage von Krieg oder Frieden, sondern um eine Frage des „Timings“, um die Wahl des optimalen Zeitpunkts: Wenn eine Auseinandersetzung früher oder später wahrscheinlich ist, ja als unvermeidlich angesehen wird, erscheint es dann günstiger, sie vorzuverlegen oder hinauszuzögern? Ein Faktor gewann aus dieser Perspektive im zwanzigsten Jahrhundert zunehmend an Bedeutung: Wann war der Punkt gekommen, an dem die Rüstungszyklen eine optimale Ausgangsposition ermöglichten? Denn es ist finanziell und technisch unmöglich, einen solchen Vorteil beliebig lang aufrechtzuerhalten.

Dieses Auf und Ab beinhaltet eine gewisse Prämie für den Angreifer, weil er den Zeitpunkt der Auseinandersetzung bestimmen kann. Es ist dieser Gesichtspunkt, der am meisten gegen die These spricht, daß Stalin den Sommer 1941 für einen geeigneten Zeitpunkt gehalten haben könnte, um seinerseits loszuschlagen. Das schlagende Argument hat einen bekannten Namen: T-34. Prototypen des zu seiner Zeit weltweit besten Panzers waren angeblich schon 1939 zum Einsatz gekommen. Doch die Massenproduktion begann 1941 gerade erst anzulaufen. Der T-34 war an die Fronteinheiten noch nicht ausgeliefert. Es erscheint wenig plausibel, einen entscheidenden Waffengang zu wagen, bevor man mit dieser „Wunderwaffe“ rechnen konnte.

Wenn die Rote Armee im Juni 1941 in einer Aufstellung angetroffen wurde, die für die Verteidigung nicht besonders sinnvoll war, mag dahinter die Eventualität eines Eingreifens in den Balkankrieg stecken – oder auch, im Sinne der Hypothese von Rainer Schmidt, möglicherweise die Furcht, daß sich aus dem Heß-Flug eine deutsch-britische Verständigung entwickeln könne, der man zuvorkommen müsse. Beides sind freilich reine Spekulationen für Fälle, die nicht eintrafen.

Ins Reich der Legende zu verweisen ist im Zusammenhang mit dem Balkanfeldzug übrigens wohl auch die These, er hätte die Wehrmacht sechs Wochen gekostet, die im Winter 1941 fehlten. Feldzüge im Osten begannen selten vor Mitte Juni – von Napoleon bis zur Operation Bagration, der sowjetischen Offensive 1944. Die Suche Hitlers nach einem Sündenbock geht hier eine kuriose Symbiose ein mit dem Streben nach einer Rechtfertigung für den Belgrader Putsch vom März 1941, der Jugoslawien letzten Endes zwei Millionen Tote eingebracht hat – während das benachbarte Bulgarien, das sich den Konjunkturen anpaßte, sehr glimpflich durch den Krieg kam.

Die USA und Großbritannien erwarteten sich von „Barbarossa“ übrigens nur eine Atempause – keine Wende: Auch sie rechneten mit einem deutschen Erfolg. Nach wie vor ein Rätsel sind tatsächlich die enorm hohen Zahlen zerstörter sowjetischer Panzer und Flugzeuge. War der qualitative Vorsprung der Wehrmacht tatsächlich so groß? Oder handelte es sich um Reserven, die in die Strukturen der Roten Armee nicht voll integriert waren? Die Wehrmacht hat die Grenzschlachten gewonnen, danach wurde es schwieriger. Die Fans von James-Bond-Geschichten haben eine Erklärung parat: Der Meisterspion Richard Sorge in Tokio habe Stalin rechtzeitig der Sorge um die Sicherheit des russischen Fernen Ostens beraubt. Nun, daß Japan bei Winterbeginn keinen Sibirienfeldzug mehr starten würde, war auch so klar.

Der strukturelle Grund für die deutschen Schwierigkeiten in der zweiten Hälfte des Feldzugs war technischer Natur. Gepflegte Straßen, wie man sie in Frankreich vorfand, fielen für den Nachschub aus. Schon Napoleon klagte in Rußland über das „fünfte Element“: den Schlamm. Man war deshalb um so mehr auf die Eisenbahn angewiesen. Doch die Russen verwendeten bekanntlich die Breitspur. Die fatalen neun Zentimeter Unterschied hatten zur Folge, daß entweder die Schienen umgenagelt oder das Material umständlich umgeladen werden mußte. Irgendwo ergaben sich da immer Engpässe. Nun bestand die Grundkompetenz der Stabsoffiziere seit Jahrzehnten in der Berechnung der Leistungsfähigkeit des Transportsystems. Doch die entsprechenden Warnungen blieben offenbar im System stecken. Das Wunschdenken behielt die Oberhand. Generalstabschef Franz Halder beschwor im Oktober das bißchen Glück, das zum Erfolg nötig sei. Doch bei der Logistik war mit Fortune nicht zu rechnen.

Der deutsche Vorstoß auf Moskau blieb Anfang Dezember stecken. Es war nicht gelungen, das vermeintliche „window of opportunity“ zu nützen, das sich um dieselbe Zeit unwiderruflich schloß. Denn bereits im November hatte Franklin D. Roosevelt im amerikanischen Kongreß eine Aufhebung der „Carry“-Klausel durchgesetzt, die Lieferungen in Kriegsgebiete untersagte. Der Kriegseintritt der USA war damit bloß noch eine Frage der Zeit, relativ kurzer Zeit. In diesem Sinne war der japanische Angriff auf Pearl Harbor für Präsident Roosevelt keineswegs die vielfach kritisierte „Hintertür“ in den Krieg, sondern eine unwillkommene Ablenkung: Konnte man der europäischen Front wirklich Priorität einräumen, wenn der eigentliche Krieg im Pazifik stattfand? Hitler befreite Roosevelt von dieser Sorge, als er am 11. Dezember 1941 den USA den Krieg erklärte.






Prof. Dr. Lothar Höbelt, Jahrgang 1956, ist außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte in Wien sowie Vortragender an der Theresianischen Militärakademie. Er lehrte als Gastdozent an mehreren US-Universitäten und veröffentlichte zahlreiche Bücher.

Foto: Ein restaurierter T-34 fährt bei der Militärparade zum „Tag des Sieges“ auf dem Roten Platz in Moskau auf: Die Massenproduktion des seinerzeit weltbesten Panzers lief 1941 gerade erst an. Das spricht gegen die These, daß Stalin in jenem Sommer das Reich hätte angreifen wollen.