© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Nationale Weichenstellung
Vor dreißig Jahren stimmte der Bundestag für Berlin als künftigen Parlaments- und Regierungssitz
Peter Möller

In der modernen parlamentarischen Demokratie sind Sternstunden der Rhetorik rar gesät. Selten kommt es vor, daß ein Abgeordneter mit einer mitreißenden Rede in einer hitzigen Debatte den Ausschlag gibt. Doch es gibt sie, diese Perlen der Redekunst. Als der Deutsche Bundestag vor dreißig Jahren am 20. Juni 1991 darum rang, ob Bonn oder Berlin Parlaments- und Regierungssitz des wiedervereinigten Deutschlands werden sollte, hatte ein Redner vielleicht den entscheidenden Anteil daran, daß die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) um 21.47 Uhr mit bewegter Stimme verkünden konnte, daß die Entscheidung mit 338 zu 320 Stimmen für Berlin als neuen Sitz von Regierung und Parlament gefallen war.

„Laßt doch dem kleinen Bonn seine Regierung und das Parlament“

Nicht nur Spötter schreiben dem langjährigen Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) einen maßgeblichen Anteil an der knappen Entscheidung für Berlin zu. Er habe mit seinem flammenden Plädoyer für Bonn, das in dem flehentlichen Ausruf „Laßt doch dem kleinen Bonn seine Regierung und das Parlament“ gipfelte und vor allem die Mühen eines Regierungsumzuges vom Rhein an die Spree in den Blick nahm und vor einer „kollektiven Umsiedelung“ Tausender Beamter und Angestellter warnte, den Bogen überspannt und manchen Zweifler aus Trotz ins Berlin-Lager getrieben. Zu engstirnig und zu offensichtlich habe er sich trotz des historischen Umbruches der Wiedervereinigung für den Status quo in der Hauptstadtfrage ausgesprochen.

Von 10 Uhr morgens an hatten die Abgeordneten im legendären Bonner Wasserwerk unter dem einzigen Tagesordnungspunkt „Beratung der Anträge zum Parlaments- und Regierungssitz“ leidenschaftlich über fünf Anträge debattiert. Neben dem unter anderem von Blüm vertretenen Bonn-Antrag, der den Umzug des Bundespräsidenten und des Bundesrats nach Berlin vorsah, Bundestag und Regierung aber weiter in Bonn belassen wollte, gab es einen Berlin-Antrag, der den Umzug von Parlament und Regierung vorsah und sich für eine „faire Arbeitsteilung“ zwischen beiden Städten aussprach. Ein Kompromiß-Antrag sah wiederum eine Teilung von Parlaments- und Regierungssitz vor: Während der Bundestag nach Berlin sollte, sollten Kanzleramt und Ministerien in Bonn verbleiben. Die PDS sprach sich in einem eigenen Antrag für den Komplettumzug nach Berlin aus, während die SPD-Abgeordneten Peter Conradi und Otto Schily lediglich beantragten, Bundestag und -regierung örtlich nicht voneinander zu trennen.

Schon in den Wochen vor der entscheidenden Abstimmung war in der Öffentlichkeit intensiv über die Hauptstadtfrage gestritten worden. Daß überhaupt die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes zur Debatte stand, war für viele überraschend. Denn zu Zeiten der deutschen Teilung bestand kein Zweifel daran, daß Berlin wieder Hauptstadt werden würde. Doch damals war die Hauptstadtfrage eben so weit weg, daß sich im Grunde niemand ernsthaft damit auseinandergesetzt hatte.

Wenn die Rede Blüms als die gilt, die möglicherweise der Sache Bonns mehr geschadet als genutzt hat, so gelten die Beiträge des damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang Schäuble und des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt als diejenigen, mit denen Zweifler auf die Seite der Berlin-Befürworter gezogen wurden.

Schäuble wertete in seiner Rede die anstehende Entscheidung auch als eine Frage des Vertrauens, denn schließlich habe man vierzig Jahren lang versichert, Berlin werde nach der Wiedervereinigung wieder Hauptstadt. Zugleich sei das im Osten liegende Berlin ein Symbol für die Überwindung der Teilung des Kontinents. „Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muß, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muß, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will“, sagte Schäuble im Bundestag. Für seine nachdenkliche Rede erhielt der heutige Bundestagspräsident lang-anhaltenden Beifall aus allen Fraktionen mit Ausnahme der PDS-Fraktion. Das Bundestagsprotokoll vermerkte zudem: „Abg. Willy Brandt (SPD) gratuliert Abg. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU).“

Der frühere SPD-Bundeskanzler wiederum sprach in seiner Rede von einer „nationalen Weichenstellung“ und erteilte dem Ansinnen, Berlin nur zur symbolischen Hauptstadt zu machen, aber Parlament und Regierung am Rhein zu belassen, eine scharfe Absage: „Berlin, in schweren Jahren Vorposten der Freiheit, hat es auch nicht verdient, mit einem Ehrentitel ohne sachlichen Inhalt abgespeist zu werden“, sagte der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin. Blüm beteiligte sich währenddessen leidenschaftlich an der Debatte, und das Plenarprotokoll verzeichnete etliche Zwischenrufe. In seiner Rede warb er unter dem Leitsatz „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß“ für eine neue Interpretation des deutschen Nationalstaates, den er nicht einfach als Verlängerung der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft betrachtet sehen wollte. „Der Nationalstaat, den wir uns wünschen, ist europäisch eingebunden und regional gegliedert. Europäisierung und Regionalisierung, das sind die Pole eines modernen Nationalstaates. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Paßt in eine solche bundesstaatliche Lösung eine alles dominierende Hauptstadt?“

Immer wieder wird Komplettumzug nach Berlin diskutiert

Am Ende der stundenlangen Debatte, die bis heute als eine Sternstunde des Parlamentarismus gilt, brandete unter den Berlin-Befürwortern im überfüllten Bundestag Jubel auf, während die vor dem Bonner Rathaus versammelte Menschenmenge in eine Schockstarre verfiel. Doch von diesem von vielen Bonnern bis zuletzt nicht für möglich gehaltenen Ergebnis hat sich die Bundesstadt, wie sich die ehemalige provisorische Hauptstadt heute nennen darf, schnell erholt. Neben üppigen Ausgleichszahlungen haben auch die Ansiedlung von Konzernen und internationalen Institutionen, etwa von Organisationen der Vereinten Nationen, dabei geholfen, den Bedeutungsverlust zu kompensieren.

Doch auch für Berlin ist manches anders gelaufen als damals vorhergesagt. So ist die Hauptstadt, anders als von Blüm in seiner Rede vorhergesagt, nicht binnen weniger Jahre zu einer Megastadt mit sechs Millionen Einwohnern angewachsen. Ebenso wenig hat sie sich zur größten Industriestadt zwischen Atlantik und Ural entwickelt. Und Bundestag und Bundesregierung werden von den meisten Berlinern indes mehr geduldet als wirklich geliebt. Auch wenn der Umzug von Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin schließlich 1999 vollzogen wurde – ganz beendet ist die Umzugsdebatte bis heute nicht. Mit schöner Regelmäßigkeit entbrennt die Debatte über einen Komplettumzug der am Rhein verbliebenen Ministerien oder Teilministerien auf ein Neues, um dann mit der gleichen Regelmäßigkeit wieder zu versanden. Daran dürfte sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern.