© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Nur am Spielfeldrand
Zwei politikwissenschaftliche Werke analysieren die außen- und sicherheitspolitische Strategie der Mittelmacht Deutschland
Peter Seidel

Bahnt sich ein neuer Kalter Krieg an, diesmal zwischen China und den USA? Droht gar eine Eskalation zum heißen Krieg, beispielsweise um Taiwan? Sicher erscheint heute, daß dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa neue Herausforderungen nicht nur auf Ostasien zukommen. Die Außen-und Sicherheitspolitik wird überall an Bedeutung gewinnen. Sind wir darauf vorbereitet, in Europa, in Deutschland, in Berlin?

Zwei Neuerscheinungen beschäftigen sich mit den Voraussetzungen außenpolitischer Entscheidungen, bei beiden Büchern steht Deutschland im Fokus. Das von Wolfgang Peischel herausgegebene Jahrbuch zur inzwischen vierten „Wiener Strategie-Konferenz“ fragt nach dem Verhältnis von politischem Willen und Strategie, also nach dem Gestaltungswillen eines Landes und der daraus abzuleitenden Strategie, während Florian Stöhrs Untersuchung der sicherheitspolitischen „Community“ sich mit jener Expertise in Deutschland beschäftigt. 

Deutsche Politiker als „Lyriker der politischen Hilflosigkeit“

Beim Wiener Diskurs liegt der Hauptschwerpunkt zunächst auf der grundsätzlichen Erörterung, bevor es dann im IV. Teil wirklich aktuell wird: Im Zentrum steht der Diskurs um die Frage „Realismus versus Multilateralismus“ (Jörg-Dietrich Nackmayr) bzw. „Revitalisierung einer ungeliebten außenpolitischen Kultur“ (Wulf Lapins), mit Replik und Contrereplik. Und sieht es zunächst so aus, als würden dabei lediglich zwei Seiten einer Medaille beleuchtet, so wird bei näherem Hinsehen doch deutlich, daß hier zugleich alte und neue, zeitgemäße und problematische Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit miteinander ringen: Nackmayr fordert dringend mehr Realismus in der deutschen Politik, während sich Lapins zum Verteidiger des deutschen Multilateralismus macht – unkritisch weder der eine noch der andere.

Ein aktuelles Beispiel: Die Diskussion um eine EU-Armee. Lapins unterscheidet hier zwischen zwei Konzepten: einer „Europäischen Armee“ und einer „Armee der Europäer“. Im ersten Fall geht es um eine Auflösung nationalstaatlicher Streitkräfte zugunsten einer Einheitsarmee, im zweiten Fall um einen föderalen Zusammenschluß vorhandener nationaler Einheiten. Vertreten wird dies im ersten Fall von den Anhängern eines europäischen Superstaates, im anderen Fall von den Gegnern einer Abschaffung der Nationalstaaten in den vereinigten Staaten von Europa. So deutlich wird dies meist „nicht expliziert herausgestellt“, ist „jedoch herauslesbar“. Jüngste Forderungen des SPD-Kanzlerkandidaten oder des CDU-Bundestagspräsidenten nach Umformung der Bundeswehr lassen erkennen, daß hier ein parteiübergreifener Konsens in Vorbereitung sein könnte. Lapins ist deshalb zuzustimmen, wenn er abschließend seinen Kollegen Herfried Münkler zitiert, „die Deutschen seien zu Nostalgikern an der Peripherie des Geschehens und Lyrikern der politischen Hilflosigkeit geworden“.

Die Wiener Strategie-Konferenz entwickelt sich langsam zu einem vom deutschen Sprachraum ausgehenden internationalen Forum für sicherheitspolitische Experten, doch wie steht es um „die sicherheitspolitische Community in Deutschland“? Dieser Frage geht Florian Stöhr in seiner Doktorarbeit nach, die den Untertitel „Eine Untersuchung ihrer Hintergründe, Funktionen und Vernetzung“ trägt. Zwischen einem Konferenzbericht und einer Dissertation liegen Welten, nicht weil es in beiden Publikationen auch um wissenschaftstheoretische Ausführungen geht, sondern wegen der Ergebnisse und nicht unbedingt wegen der aktuellen Relevanz. Und die ist bei Stöhr leider sehr gering: Mit seiner Methode will er die 132 „tatsächlich wichtigen“ sicherheitspolitischen Experten in Deutschland festgestellt haben, seine „sicherheitspolitische Community“, ausgewählt nach „drei oder mehr Ämtern und Gremienmitgliedschaften“. Neben Horst Teltschik, Volker Rühe oder Christian Hacke stehen so dann Sicherheitspolitiker wie Rita Süssmuth, Theo Waigel, Petra Pau oder renommierte Bankvorstände, also nicht unbedingt ausgewiesene Experten für Sicherheitspolitik. Doch vielleicht gerade deshalb zutreffendes Abbild deutscher Realität? Ein solches Ergebnis ist fragwürdig, wenn etwa die einflußreichsten Wirtschaftsexperten an der Anzahl ihrer Veröffentlichungen oder der Häufigkeit, mit der sie zitiert werden, gemessen werden. 

Stöhrs Arbeit wirft viele Fragen auf: Gibt es überhaupt eine sicherheitspolitische Gemeinde in Deutschland? Wie hat sie sich verändert, etwa nach der Wiedervereinigung? Kann man sie mit jener in den USA vergleichen? Gibt es also auch in Deutschland „Falken“ und „Tauben“? Welche Rolle spielt die Gruppenbildung pazifistischer Friedensforschung, offiziöser Nato-Wissenschaft und unabhängiger Strategische Studien? Wie differiert die Einschätzung von nuklearer Abschreckung und erweiterter Abschreckung, die Einschätzung von Nato und EU als sicherheitspolitischen Akteuren, die Einschätzung der sicherheitspolitischen Programmatik der Bundestagsparteien?

Eine Zeitungsrezension ist kein wissenschaftliches Gutachten, doch wenn eine Doktorarbeit bei einem Verlag veröffentlicht wird, muß man schon nach dem Mehrwert einer solchen Publikation für die Öffentlichkeit fragen. Und der erinnert hier an das Verdikt von Christian Hacke über die „aufgesetzte Gelehrsamkeit deutscher Politikwissenschaftler“. Oder ist sie vielleicht doch gerade ein getreues Abbild deutscher Sicherheitspolitik? Die Strategie-Konferenz findet nicht ohne Grund in Wien und nicht in Berlin statt, und ihre Beachtung in der deutschen Öffentlichkeit und in den Medien tendiert gegen Null. Dies kann kaum überraschen, denn sicherheitspolitisch ist Deutschland Entwicklungsland – einigen wenigen etablierten Institutionen wie der Stiftung Wissenschaft und Politik zum Trotz. Gibt es hier überhaupt eine sicherheitspolitische Gemeinde? Die Antwort muß leider lauten: allenfalls im verborgenen!

Wolfgang Peischel (Hrsg.): Wiener Strategie-Konferenz 2019. Strategie neu denken. Miles-Verlag, Berlin 2021, gebunden, 700 Seiten, 39,80 Euro

Florian Stöhr: Die sicherheitspolitische Community in Deutschland. Eine Untersuchung ihrer Hintergründe, Funktionen und Vernetzung. Tectum-Verlag, Baden-Baden 2021,  388 Seiten, broschiert, 74 Euro