© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Über die Schlagkraft des Christentums
Der britische Historiker Tom Holland seziert die historischen Antriebe, die die westlichen Wertvorstellungen prägten
Karlheinz Weißmann

Alain de Benoist hat einmal geäußert, daß keine Zeit christlicher gewesen sei als die Gegenwart. Das mag auf den ersten Blick überraschen, angesichts des handgreiflichen Niedergangs all dessen, was einmal das „Abendland“ ausmachte, der Kirchenaustrittszahlen und der fortschreitenden Islamisierung Europas. Aber ihm ging es mit seiner Einschätzung um etwas anderes: die Tatsache, daß nie zuvor in der Geschichte bestimmte christliche Leitvorstellungen – der Wert des Individuums, des Friedens und der Gleichheit – so allgemein akzeptiert waren wie heute.

Der britische Historiker Tom Holland kommt in seinem jüngsten Buch zu einer ganz ähnlichen Schlußfolgerung. Denn dessen Titel „Herrschaft“ verweist gerade nicht auf eine allmächtige Institution, als die die Kirche zeitweise erscheinen mochte, sondern auf den anhaltenden Einfluß der christlichen Mentalität in jenen Gesellschaften, die Holland dem „Westen“ zurechnet. Seine Erklärung dieses Einflusses ist nicht originell im eigentlichen Sinn, wird aber – wie immer bei diesem Autor –ausgesprochen eingängig präsentiert.

Holland beginnt seine Darstellung mit dem einen zentralen Datum der Geschichte des Christentums – Karfreitag – und verknüpft es mit dem zweiten – Ostern –, um etwas von der Unwahrscheinlichkeit der Karriere dieser Religion ins Gedächtnis zu rufen. Denn das Kreuz war, wie Paulus im ersten Brief an die Korinther schrieb, „den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit“. Das heißt, der brutale Sklaven- und Verbrechertod erschien den Juden als Beweis für die Verwerfung desjenigen, „der am Holze hängt“, und als unvereinbar mit der Erwartung des Messias. Bei den Heiden erregte in erster Linie das elende Sterben des Gekreuzigten Anstoß, das als unvereinbar mit der Vorstellung göttlicher Macht galt. Wenn Holland die Irritation durch das Kreuz als Heilszeichen hervorhebt, dann aber auch, weil Paulus mit seiner Rede von „Ärgernis“ und „Torheit“ den Reiz des Paradoxen nutzte und der Zielpunkt seiner Argumentation nicht dieses Ende, sondern der Neuanfang in der Auferstehung Christi war.

Die „Konstantinische Wende“ bedeutete den Durchbruch 

Der ungeheure Elan der paulinischen Mission speiste sich aus der Überzeugung, daß es sich bei dem von den Römern in einer ihrer unbedeutenden Provinzen als Aufrührer hingerichteten Galiläer um den Sohn Gottes handelte, den sein Vater von den Toten auferweckte. Eine Vorstellung, die den antiken Menschen plausibler erscheinen mochte als den modernen. Aber ausschlaggebender als die Faszination durch dieses und andere Wunder war für den Erfolg des Christentums nach Meinung Hollands, daß ihm langfristige Entwicklungen den Boden bereitet hatten. Dazu gehörte die Infragestellung aller älteren religio durch den ersten Prozeß philosophischer Aufklärung, der in Griechenland seinen Ausgang nahm, das damit verbundene Zurücktreten des Kultischen und Hervortreten des Ethischen, das nach Meinung mancher gebildeter Heiden – der „Gottesfürchtigen“ des Neuen Testaments – im Judentum eine anziehende Gestalt gefunden hatte, sowie die Schaffung einer politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen „Ökumene“ in Gestalt des römischen Reiches, die auch die Verbreitung von Ideen förderte.

Dieses Zusammenspiel von Tendenzen zu ihren Gunsten war für die erste Gemeinde allerdings nicht erkennbar. Sie fand sich vielmehr der massiven Verfolgung durch den Staat ausgesetzt, der in den Christen „Systemgegner“ sah, die es unschädlich zu machen, in letzter Konsequenz auszurotten galt. Die Überzeugungstreue und Standhaftigkeit der Märtyrer in den ersten drei Jahrhunderten hat sicher die Anziehungskraft der christlichen Lehre ebenso erhöht wie das Vorbild der den Römern so fremden Nächstenliebe. Doch der Durchbruch fand erst mit der „Konstantinischen Wende“ statt. Erstaunlich ist dabei nicht nur die Selbstverständlichkeit, mit der Holland Konstantin als Christen bezeichnet, sondern auch die positiven Folgen hervorhebt, die der staatliche Eingriff in die theologischen Dauerstreitigkeiten hatte. 

Bezeichnenderweise entstand im Westen aber nicht jener „Cäsaropapismus“, der für die Ostkirche typisch werden sollte. Vielmehr entwickelte sich die Kirche hier mit dem Kollaps des römischen Reiches, der Völkerwanderung und der Entstehung der germanischen Herrschaftsgebiete zu einem fast gleichrangigen Gegenspieler des Staates. Diese Scheidung der beiden Gewalten hält Holland zu Recht für konstitutiv, wenn es darum geht, zu erklären, was das Abendland ausmachte. Aber es handelte sich doch nur um die Außenseite des Prozesses, der im Gefolge der Christianisierung den ganzen Raum zwischen Atlantik und Baltikum, Skandinavien und dem romanischen Süden erfaßte. Daß Holland diese Verinnerlichung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Frömmigkeits- und Theologiegeschichte betrachtet, gehört ohne Zweifel zu den Schwächen seiner Darstellung. Denn nirgends wird bei ihm erkennbar, welche entscheidende Umprägung das Christentum dadurch erfuhr, daß es ältere Vorstellungen und Haltungen einschmolz. Bei ihm fehlen nicht nur alle Hinweise auf das Rittertum, sondern auch auf die Mystik und bestimmte, für diesen Zusammenhang aufschlußreiche Aspekte der Volkskultur sowie jenen Faktor, den Oswald Spengler als die „faustische Seele“ des abendländischen Menschen bezeichnet hat.

Ein Defizit, das weiter erklärt, warum der letzte Teil der Darstellung Hollands am wenigsten überzeugt. Denn auch wenn man ihm beipflichten kann, daß die Reformation wie die großen sozialen Umwälzungen bis zum 19. Jahrhundert immer auch christlichen Impulsen folgten, so wenig ist damit anzufangen, daß er sonst alles tut, um die Feinde des Christentums, von Spinoza bis de Sade, von Robespierre bis Marx und Lenin, von Nietzsche bis John Lennon immer wieder einer Art Kryptochristentums zu überführen. Ausgenommen bleiben nur Darwin und seine Jünger, Mussolini und Hitler. Was in den letzten Kapiteln von „Herrschaft“ geboten wird, ist entsprechend „dünn“, wirkt angelesen im schlechten Sinn des Wortes, und immer so hingebogen, daß es die Generalthese Hollands stützt, nämlich daß dem Christentum eine „offenbar grenzenlose Fähigkeit zur Evolution“ innewohnt. Diese Einschätzung ist aber nur plausibel, wenn man von dessen eigentlichem Glaubensgehalt absieht und als seinen Kern jene „akosmistische Liebesethik“ betrachtet, die sich um die Realitäten dieser Welt nicht schert.

Die Formel stammt von Max Weber, der sie kritisch verstanden wissen wollte, in einer Zeit, die ähnlich wie unsere an kollektivem Wirklichkeitsverlust litt und in der sich die Vorstellung ausbreitete, es werde morgen alles ganz anders sein und keine Regel mehr gelten, die in der „gefallenen“ Schöpfung gelten muß. Denn die harte Lehre von der Sünde und dem Bösen, vom Gericht und der Erlösung behagt dem modernen Menschen nicht. Dabei genügt ein Blick ins Neue Testament, um zu erkennen, daß sie im Zentrum der christlichen Botschaft steht. Die handelt von der Herrschaft Gottes und unserer Kindschaft, und davon, daß dem Gebot der Nächstenliebe ein anderes vorgeordnet ist: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit ganzer Seele, mit ganzem Herzen und mit aller deiner Kraft.“

Tom Holland: Herrschaft. Die Entstehung des Westens. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 624 Seiten, 28 Euro