© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Im Ausnahmezustand
Die Klimaforschung entwertet sich in der „Postnormalität“ / Die Virologie scheint der Versuchung einer Politisierung bisher nicht erlegen
Christoph Keller

Hans von Storch ist ein Verfechter des 1,5-Grad-Ziels des Paris Agreement, das auf der Klimakonferenz (COP21) von 2015 vereinbart wurde. Das könne die Menschheit bis 2100 nur erreichen, wenn die Nettoemissionen von Treibhausgasen wie Kohlendioxid (CO2) oder Methan (CH4) bis etwa 2050 auf null sinken. Das klingt, als sei der 71jährige nicht bis 2015 Professor am Institut für Meteorologie der Universität Hamburg, sondern am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) unter Hans Joachim Schellnhuber tätig gewesen.

Aber von dieser Art extrem politisierter PIK-Wissenschaft hat sich der renommierte frühere Leiter des Instituts für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum Geesthacht (Hereon) bereits 2013 in seinem, die gefährliche Nähe von Politik und Klimaforschung aufs Korn nehmenden Buch über „Die Klimafalle“ distanziert. Aus Anlaß der Corona-Pandemie legt von Storch hierzu jetzt nochmals nach. Denn Covid-19 und Klimawandel haben für ihn eines gemeinsam: Beide sind „postnormale wissenschaftliche Objekte“ (Naturwissenschaftliche Rundschau, 3/21).

„Interessengeleitete Kombattanten“

Die Wissenschaftstheorie der Postnormalität entstammt den 1980er Jahren und beschreibt, wie sich Wissensproduktion im Ausnahmezustand verändert – mit vier Besonderheiten: Unsicherheit, Wertebezug, Dringlichkeit und hohes Risiko. Unter diesen Bedingungen könne Wissenschaft politische Entscheidungsprozesse aber nicht mehr im „Normalbetrieb“ beeinflussen, sondern werde zum „interessengeleiteten Kombattanten“. Genauso wie die Politik sich „entpolitisiere“, indem sie auf Klimaforscher oder Virologen hört, so „entwissenschaftliche“ sich Wissenschaft, wenn sie Autorität jenseits ihrer Kernkompetenz, der methodisch geleiteten Wahrheitssuche, für sich reklamiert.

Konfrontiert mit postnormalen Objekten nimmt das Maß an Unsicherheit für Wissenschaftler erheblich zu. Können sie in normalen Zeiten „gesichertes“ und akzeptiertes Wissen generieren, das den relativ reibungslosen Alltag der industriellen Massengesellschaft regelt, schwindet bei akuten oder drohenden Katastrophen die Zustimmung zu ihren Problemlösungen. Derzeit ist die erhöhte Sensitivität des globalen Klimasystems gegenüber Treibhausgasen eine solche Unsicherheit. Die erst wirklich zu beseitigen ist, „wenn der Klimawandel sich deutlich länger entfaltet“.

In ähnlich unübersichtlichem Gelände tasten sich Virologen vor, denen präzise Auskünfte über Herdenimmunität oder das Anrollen der nächsten Infektionswelle von der Politik abverlangt werden. Das Ansehen von Wissenschaftlern leide, wenn das auf so schwankendem Boden gewonnene, deswegen heftig „umstrittene“ Wissen in politische Entscheidungen eingehe. Diese orientieren sich zudem nicht allein an Daten und Fakten, sondern an Wertesystemen. Daher muß die Klimaforschung auch zwischen dem Wohlergehen der gegenwärtigen und der zukünftigen Generationen abwägen. In der Corona-Pandemie tragen Mediziner auch Verantwortung für die Entscheidung, ob die Sorge für Alte und Schwache zu Lasten der Jungen und wirtschaftlich Aktiven gehen soll.

Ferner setzen Krisen Politik und Wissenschaft gleichermaßen unter Handlungs- und Erfolgsdruck. Unverzüglich soll ein Stillstand des öffentlichen Lebens verhängt werden, obwohl Virologen und Epidemiologen die Sinnhaftigkeit von Lockdowns kontrovers diskutieren. Ebenso drängen Klimaforscher wie Schellnhuber darauf, schnellstens alle Kohlekraftwerke abzuschalten und Autos mit Verbrennungsmotor zu verschrotten. Solche hastig getroffenen Alles-oder-Nichts-Weichenstellungen während der „Postnormalität“ sind für Hans von Storch mit dem erheblichen Risiko des Scheiterns verknüpft.

Postnormale Wissenschaft scheine aktuell eine Rückkehr zur Normalität zu erschweren oder zu versperren. Normal ist, daß es „die Wissenschaft“, der zu folgen die „Fridays for Future“-Anhänger auffordern, gar nicht gebe. Wissenschaft liefert nur bestmögliche Erklärungen – im Idealfall ohne Rücksicht auf gesellschaftliche oder wirtschaftliche Interessen. Dieses Wissenschaftsethos habe sich zumindest aus der dogmatisierten Klimaforschung verabschiedet. Eine unabhängige Beratung finde nicht mehr statt. Es gehe hier nur noch um das „Bestätigen einer zuvor auf welcher Basis auch immer festgelegten Argumentationslinie“.

Darum seien die Beratergremien der Bundesregierung darauf festgelegt, Priorität für die Klimaproblematik einzuklagen. Dies habe das Sondergutachten „Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen“ des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU; JF 53/20) dokumentiert. Die Mehrheit der Gutachter wollte am Parlament vorbei einen wissenschaftsbasierten „Rat für Generationengerechtigkeit“ mit einem Vetorecht bei der Gesetzgebung ausstatten. Nur eine SRU-Sachverständige, Lamia Messari-Becker (Professorin für Bauphysik an der Universität Siegen) votierte gegen dieses geplante Comeback der „Räteherrschaft“.

Wissenschaftler für Comeback der „Räteherrschaft“

Eine selbstreflexive Diskussion über Grenzen des Potentials der Klimaforschung bleibe aus. In den Medien dominieren stattdessen wenige prominente Experten, die behaupten, alle Aspekte der Klimapolitik mit sämtlichen sozialökonomischen Folgen einschätzen zu können, obwohl sie nur in ihrem engeren Fach zu Hause seien und darüber hinaus nur „laienhafte Antworten“ parat hätten. So werde dem Dilettantismus Tür und Tor geöffnet. Man dürfe sich daher nicht wundern, wenn die Politik „Leute mit einem abgebrochenen Studium der Theaterwissenschaften“, wie von Storch mit einem Hieb gegen die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth austeilt, zur Problemlösung einlädt.

Wenn man die beiden in akuter Unsicherheit agierenden Disziplinen vergleiche, dann sei die Klimaforschung der Versuchung erlegen, weit jenseits ihrer Kompetenz Alternativlosigkeit zu suggerieren. Dadurch habe sie sich als Wissenschaft selbst entwertet. Demgegenüber sei es der Virologie bisher weitgehend gelungen, ihre Grenzen nicht zu überschreiten. Der Umgang mit der Pandemie sei deshalb „ungleich erfolgreicher“ als der mit dem „menschengemachten Klimawandel“.

 www.hereon.de

 www.hvonstorch.de