© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/21 / 18. Juni 2021

Gefeuert, suspendiert, ausgeladen
„Cancel Culture“: Die Netzseite canceledpeople.com sammelt Fälle der Löschkultur
Lorenz Bien

Seit einigen Jahren geistert der Begriff nun bereits durch die öffentliche Diskussion: Cancel Culture. Gemeint ist das Absagen, Löschen oder die Zensur von öffentlichen Figuren, nachdem diese in irgendeiner Weise gegen den guten Ton verstoßen, oder auch einfach nur Ansichten geäußert haben, die man anderswo nicht gerne hört. Doch wo sich Konservative und Liberale um die Meinungsfreiheit sorgen, sieht das linke Spektrum einen „rechten Kampfbegriff“, der ein Problem vorspiegele, daß es so gar nicht gäbe. Auch die Absage gehöre schließlich zum liberalen Meinungsbesteck.

Unzufriedenheit über Unterrichtsinhalte geäußert

Vielleicht ist es in einer solch verfahrenen Lage nicht schlecht, sich einen Überblick über die Ausmaße des Phänomens verschaffen zu können. Genau dies versucht die Webseite „canceledpeople.com“ zu leisten. Seit dem Sommer 2020 werden dort Vorfälle aufgelistet, in denen Leute aufgrund von Aussagen suspendiert, gefeuert oder anderweitig aus ihren Positionen gedrängt wurden. Überwiegend hat man dabei die USA im Blick, doch auch Fälle aus anderen Ländern tauchen immer wieder auf. Bemerkenswert ist dabei die starke Häufung im akademischen Kontext: Von den hier 217 vermerkten Fällen geschahen mehr als 60 an Universitäten und „Colleges“. Doch auch innerhalb von Firmen, Kirchen, „public schools“, Nachrichtensendern und Zeitungen hat die Sitte um sich gegriffen. 

So kann man etwa über die kanadische Professorin Rima Azar lesen, die sich auf ihrem persönlichen Blog kritisch über die sogenannte „critical race theory“ (JF 52/20) äußerte und anschließend aufgrund von Beschwerden seitens einiger Studenten unbezahlt von ihrem Job suspendiert wurde. Ähnliches geschah David Flynn, Football-Coach der örtlichen Highschool in der Kleinstadt Dedham in Massachusetts. Weil Flynn, dessen Tochter ebenfalls die Schule besucht, gegenüber dem Schuldirektor und anderen Autoritäten seine Unzufriedenheit mit einigen Unterrichtsinhalten geäußert hatte, entfernte ihn die Schule von seiner Position als Coach. Flynn hatte sich offenbar kritisch über Lehrer geäußert, welche die „Black Lives Matter“-Bewegung in ihrem Unterricht affirmiert hatten und darüber, daß Unterrichtsinhalte bezüglich Themen wie „Rasse, Gender und Diversity“ nicht objektiv gewesen seien. 

Doch nicht alle gesammelten Vorfälle entspringen linker Denunziationswut. So feuerte etwa Fox News den Redakteur Chris Stirewalt, nachdem dieser zur Verärgerung vieler Zuschauer Joe Biden in der Wahlnacht 2020 zum Sieger erklärt hatte. An der University of Alabama kündigte der Professor Jamie Riley im Sommer 2019 seinen Job als Dekan, nach Aussage der Universität in gegenseitigem Einverständnis. Kurz zuvor hatte die konservative Nachrichtenseite Breitbart News einen Artikel über Riley veröffentlicht, in welchem ältere Twitter-Nachrichten des Professors zitiert wurden. Dort hatte Riley etwa gefordert, daß weiße Menschen keine Meinung über das Thema Rassismus äußern sollten, könnten sie diesen doch ohnehin nicht erfahren.

Falscher Umgang mit dem Begriff „Hate Speech“

Daß Fälle von beiden Seiten aufgelistet werden, entspricht dem Selbstverständnis der Webseite. Man wolle „Cancel Culture als eigenständiges Phänomen“ verstehen lernen, erklärt ein kurzer Text dem Besucher. Wie es sich ausdrücke, entwickle und auf gesellschaftliche Normen rund um das Thema Meinungsfreiheit einwirke, habe schließlich Einfluß auf das Funktionieren der Demokratie. 

Fragwürdig wird dieses Konzept allerdings, wenn die Betreiber der Seite versuchen, Cancel Culture auf Fälle zu beschränken, in denen Personen aufgrund „vernunftbasierter Aussagen“ gecancelt wurden. Was denn unter diesen Begriff fallen soll, so räumt der Text zugleich ein, sei allerdings schwer zu definieren. „Hate Speech“ falle jedenfalls nicht darunter.

Nun ist dieser Begriff jedoch kaum weniger schwammig, ja tatsächlich dürften mehrere der auf der Seite versammelten Fälle in den Augen der Cancel-Akteure wohl genau darunter fallen. Durch die Übernahme des Begriffs bereitet die spendenfinanzierte Seite also letztlich den Boden für das, worüber sie aufklären will. Das ist um so bedauerlicher, als daß man durchaus eine sinnvolle Begrenzung der Fälle hätte konstruieren können – etwa indem man Konsequenzen bezüglich klar beleidigenden oder zu Gewalt aufrufenden Aussagen nicht auflisten würde. Genau diese Grenze will die Linke durch die Taktik der Cancel Culture verwischen, und leider geht canceledpeople.com diesen Schritt bereits tendenziell mit.