© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

„Ein Klima der Angst“
Er gehört zu den Wegbereitern Erneuerbarer Energien in Deutschland: Heute jedoch kämpft der ehemalige SPD-Umweltpolitiker Fritz Vahrenholt gegen die Ideologisierung der Umweltbewegung durch die grüne Klimapolitik
Moritz Schwarz

Herr Professor Vahrenholt, Sie warnen davor, daß die Grünen im Herbst die Bundestagswahl gewinnen?

Fritz Vahrenholt: Ich warne vor dem Kurs, den Deutschland energiepolitisch steuert. Vor allem seit dem jüngsten Klima-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts. Fast scheint es gleich zu sein, wer die Bundestagswahl gewinnt, denn die Institutionen unseres Staates werden inzwischen zum Teil von einem gefährlichen, irrealen Denken beherrscht. 

Inwiefern?

Vahrenholt: In unserem Buch „Unerwünschte Wahrheiten“ haben wir gezeigt, wie absurd die Klageschrift ist, die jetzt zum Klima-Urteil geführt hat. Nie und nimmer hätten wir geglaubt, daß sie Erfolg haben könnte. Wird dieser Beschluß, so wie Bundesregierung und Bundestag es mit der Verschärfung des Klimaschutzgesetzes getan haben, umgesetzt, wird die Industriegesellschaft Deutschlands und damit der Kern unseres Wohlstands zerstört. 

Übertreiben Sie nicht etwas?

Vahrenholt: Nein, denn das Gericht hat völlig ignoriert, ob es überhaupt möglich ist, was sein Beschluß fordert: Wie sollen Industrie, produzierendes Gewerbe, Verkehr, Haushalte die CO2-Einsparungen, die künftig verlangt werden, überleben? Ab 2030 sollen durchschnittlich nur noch fünfzig Millionen Tonnen CO2 im Jahr emittiert werden dürfen. So viel wie derzeit allein schon die deutsche Baustoffindustrie systembedingt durch die Zementproduktion ausstößt, oder aber die deutsche Landwirtschaft, die 75 Millionen Tonnen pro Jahr emittiert. Da bleibt nichts mehr übrig: Heizen ohne Erdgas, Fliegen ohne Kerosin, Stahlindustrie ohne Koks und Erdgas oder Chemieindustrie ohne Erdöl?

Aber Ziel des Urteils ist doch nicht, Industrien abzuschaffen, sondern die Politik zu zwingen, Auflagen zu machen, damit 2030 alles mit weit weniger CO2-Ausstoß weiterbetrieben werden kann. 

Vahrenholt: Das alles in zehn Jahren durch Wasserstoff auf der Basis von Wind- und Sonnenstrom zu machen, ist illusionär, auf jeden Fall aber unbezahlbar. Die Veränderung der Energiebasis, weg von Erdgas, Öl und Kernenergie, verteuert die Produktion um ein Vielfaches. Solange die CO2-Vemeidungskosten nicht weltweit, sondern nur bei uns gelten, entziehen wir unserer Industrie die Konkurrenzfähigkeit. Will sie überleben, muß sie sich andere Standorte suchen. Deutschlands Haushalte zahlen mit 33 Cent pro Kilowattstunde schon heute die weltweit höchsten Strompreise, die USA liegen bei 13 Euro-Cent, China bei acht. Übrigens kalkuliert das Urteil auch nicht, daß wir in Deutschland nicht genug Platz haben, um die Menge benötigten Stroms durch Wind und Sonne zu produzieren.

Wieso, die Bundesrepublik Deutschland hat immerhin 357.000 Quadratkilometer Fläche? 

Vahrenholt: Derzeit erzeugen wir hierzulande circa 200 Terawattstunden Strom aus Sonne und Wind, verbrauchen aber etwa 600 – der Rest kommt immer noch aus Kernenergie, Gas und Kohle. Doch dazu kommen noch Heizung, Verkehr, Industrie: addiert man diese Sektoren, müßten wir 2.400 Terawattstunden aus Sonne und Wind erzeugen! Das aber würde bedeuten: Auf mehr als 200.000 Quadratkilometer je eine Fünf-Megawatt-Windkraftanlage pro Kilometer – flächendeckend, also egal ob da Wald, See oder Stadt ist! Dazu kommt, daß sich Strom, anders als Frau Baerbock glaubt, nicht einfach speichern läßt. Batterien als Speicher wären für diese Aufgabe unbezahlbar und der Einsatz von Wasserstoff würde zu einer Verdreifachung der Energiekosten führen. Man kann aber ein Hochtechnologieland nicht nur dann betreiben, wenn Sonne und Wind verfügbar sind. Ohne ausreichende Speicherkapazität käme es also zu Stromengpässen, Stromzuteilungen, Stromsperren und immer mehr Stromausfällen – kurz, zu einer Strommangelwirtschaft! 

Sie kennen das Gegenargument: Die Wirtschaft hat bis jetzt noch bei jeder Reform gejammert und geklagt, dann würde alles zusammenbrechen. Passiert ist es nie. 

Vahrenholt: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht – sprich, wir rasen auf eine riesige Energielücke zu. Die Probe aufs Exempel erfolgt in zwei Jahren, wenn die Atomkraft ganz abgeschaltet wird. 

Was aber kritisieren Sie am Beschluß des Bundesverfassungsgerichts im Detail, was genau macht es aus Ihrer Sicht so abwegig?  

Vahrenholt: Gerade haben wir die fünfte und aktualisierte Auflage von „Unerwünschte Wahrheiten“ fertiggestellt, inklusive eines neuen Vorworts, das sich dem Urteil widmet und etwa aufzeigt, daß sich das Verfassungsgericht nicht einmal die Mühe gemacht hat, abweichende Meinungen zu hören. Das Urteil basiert also auf einer völlig einseitigen Quellenauswahl – vor allem die üblichen aktivistischen Klimaforscher, das Umweltbundesamt, von dem man ja weiß, daß es pausenlos die Klimapauke schlägt, natürlich das IPCC, also der Weltklimarat der Vereinten Nationen, etc. Weiterhin enthält es schlimme wissenschaftliche Fehler. 

„Wissenschaftliche Fehler“?

Vahrenholt: Etwa heißt es darin. „Nur kleine Teile der anthropogenen Emissionen werden von den Meeren und der terrestrischen Biosphäre aufgenommen.“ Also wirklich, so einen Unfug darf eine Institution wie das Bundesverfassungsgericht einfach nicht zur Grundlage weitreichender gesellschaftspolitischer Vorgaben machen. Jeder Klimawissenschaftler wird bestätigen, daß die anthropogenen CO2-Emissionen von Ozeanen und Pflanzen zu mehr als der Hälfte wieder aufgenommen werden. Der Fehler hat Folgen, denn weil das Gericht CO2-Senken in Abrede stellt, kommt es zum Ergebnis, daß nur noch ein bestimmtes Restbudget von 6,7 Gigatonnen für Deutschland zulässig sei. Aber was will man erwarten, wenn Kläger und Beklagter, also Bundesregierung und Bundestag, grundsätzlich die gleiche Position vor Gericht vertreten. 

„Grundsätzlich die gleiche Position“? Das Bundesverfassungsgericht hat sein Urteil doch gegen den Bundestag beziehungsweise das von diesem verabschiedete Klima-Gesetz gefällt.  

Vahrenholt: In der Stellungnahme des beklagten Bundestages heißt es: „So sei von einer gegenwärtigen Grundrechtsbeeinträchtigung durch den Klimawandel auszugehen. Zum Teil sei auch die individuelle Betroffenheit der Beschwerdeführenden zu bejahen“. Parlament, Gericht und Regierung stimmen also in Wahrheit weitgehend überein, wenn man etwas näher hinschaut. 

Was denken Sie, ist der Grund dafür? 

Vahrenholt: Es geht sogar weit über Parlament und Regierung hinaus, weil wir in einem Klima der Angst leben. Vom Medienwissenschaftler Norbert Bolz stammt ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Kinder der Angst“. Darin vergleicht er die Lage heute mit der Angst vor dem Fegefeuer im Mittelalter: Macht man den Leuten nur genug Angst, kann man sie lenken und sogar dazu bewegen, gegen ihre Interessen zu handeln. Etwa aus Angst vor der Zukunft ihre Zukunft zu zerstören.  

Wird diese Angst Ihrer Ansicht nach verbreitet, weil man sich irrt, oder steckt etwas anderes dahinter?

Vahrenholt: Würde die Aktivisten allein die Sorge vor der Klimakatastrophe umtreiben, dann würden sie alle Mittel und Wege, CO2 zu reduzieren, in Betracht ziehen. Aber weder ziehen sie inhärent sichere Kernkraftwerke und Fusionskraftwerke noch die Tiefenverpressung von CO2 aus Kraftwerken in Erwägung. Bei vielen „grünen“ Aktivisten spielt  der alte Traum der Zerstörung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft eine große Rolle. 

Allerdings haben Sie selbst doch einmal zur grünen Bewegung gehört. 

Vahrenholt: Das stimmt, bis ich anhand der Klimafrage gemerkt habe, wie dieses Thema instrumentalisiert wird. Natürlich trägt CO2 zur Erwärmung der Atmosphäre bei. Die entscheidende Frage ist aber: Wieviel? Der IPCC ist sich unsicher und rechnet bei Verdoppelung der CO2-Konzentration mit einer Bandbreite von 1,5 bis 4,5 Grad Erwärmung. Dabei aber blendet der IPCC die natürlichen Klimaschwankungen vollständig aus, wie sie sich in der Vergangenheit etwa in der mittelalterlichen Warmzeit oder der kleinen Eiszeit von 1600 bis 1800 gezeigt haben. Vieles spricht dafür, daß die Erwärmung sich am unteren Ende der Bandbreite befindet. Dann hätten wir deutlich länger Zeit, die Energieerzeugung umzustellen.

Und mit Ihren Büchern wollen Sie gegen diese von Ihnen festgestellte Instrumentalisierung des Klima-Themas ankämpfen? 

Vahrenholt: Ja, mein Co-Autor, der Geowissenschaftler Sebastian Lüning, und ich haben erkannt, daß ein Buch fehlt, in dem man rasch und gezielt Antworten auf spezielle Fragen dieser hochkomplexen Materie findet. Sicher kennen Sie das: Jemand im Bekannten- oder Kollegenkreis fordert, es müsse klimapolitisch radikal durchgegriffen werden, etwa weil die Trockenheiten zunähmen, oder an allem das CO2 schuld ist etc. Aber stimmt, was er behauptet? Die Antwort zu finden kann sehr schwierig sein. Deshalb haben wir für „Unerwünschte Wahrheiten. Was Sie über den Klimawandel wissen sollten“ die fünfzig wichtigsten Fragen dieser Art zusammengetragen und beantwortet. Man kann das Buch konventionell lesen oder aber gezielt die Frage/Antwort aufschlagen, die man gerade braucht, um dem Bekannten oder Kollegen aufzuzeigen, daß er einer falschen Schlagzeile aufgesessen ist – und so hoffentlich helfen, die Klimahysterie einzudämmen. 

Allerdings sagen Sie nicht, daß CO2 ungefährlich ist. 

Vahrenholt: Richtig! CO2 ist ein schwaches Klimagas. Aber: die Pflanzen lieben es, die dank CO2 schneller und größer wachsen und nicht nur mehr und größere, sondern auch nährstoffreichere, also gesündere Früchte tragen. Übrigens ist allein die Produktion von Weizen, Reis und anderen Grundnahrungsmitteln weltweit durch die CO2-Erhöhung in den letzten 150 Jahren um 15 Prozent gestiegen, seit 1970 allein um zehn Prozent! Und jedes Jahr vergrößert sich dank des Gases die weltweite Blattfläche um die Fläche Polens. Doch dürfen wir andererseits das CO2 auch nicht verharmlosen und seine Menge ausufern lassen! Denn – ohne Rückkopplungseffekte der Atmosphäre betrachtet – erhöht eine Verdoppelung des CO2-Anteils in der Luft die Temperatur um ein Grad Celsius. Ebenfalls kein Zweifel besteht daran, daß der Mensch für die Erhöhung des CO2 verantwortlich ist. Die Frage ist aber: Wie groß sind die natürlichen Klimaschwankungen? Denn nicht nur CO2 verändert das Klima, sondern auch andere Faktoren, etwa die Sonne, die Wolkenbedeckung oder die Ozeane.

Also, was empfehlen Sie?

Vahrenholt: Schauen wir zurück, ist die globale Durchschnittstemperatur seit 1990 um 0,14 Grad pro Jahrzehnt gestiegen. Doch die Modelle, die uns eine Klimakatastrophe für 2100 voraussagen, berechnen rückwirkend für die Zeit ab 1990 einen zwei- bis dreimal höheren Anstieg. Also: ja, es wird in der Zukunft wärmer, doch nicht in dem Maß, wie allgemein behauptet. Das heißt, wir haben mehr Zeit, um klug zu reagieren und unsere Energieversorgung vernünftig weiterzuentwickeln, statt unseren Wohlstand ideologisch zu ruinieren. Da wir wegen des durch den Atomausstieg verursachten Technologieabrisses nicht einfach mal eben wieder in die Kernkraft einsteigen können, brauchen wir eine Infrastruktur von Gaskraftwerken – gekoppelt mit der zweiten Nordstream-Leitung. Weiterhin müsste erlaubt werden, CO2 abzuscheiden und in den Boden etwa der Nordsee zu verpressen. Schließlich braucht es die Aufhebung des Forschungsverbots und ein umfangreiches Forschungsprogramm für einen Wiedereinstieg in die Kernkraft auf Basis neuer Reaktortechnologien. Die Fusionstechnologie muß forciert werden. Alle diese Punkte stoßen auf den erbitterten Widerstand der Grünen. Aber so könnten wir unseren CO2-Ausstoß bis 2050 halbieren, ohne unsere wirtschaftliche Lebensgrundlage zu vernichten.  

Ihre Kritiker sagen allerdings – auch unter Verweis auf Ihre frühere Managertätigkeit –, Sie seien eine Art Agent der Industrie und Ihre Bücher unwissenschaftlich.  

Vahrenholt: Daß „Agent“ Unsinn ist, zeigt schon, daß ich, unter anderem wegen meines Buches „Seveso ist überall“, für die Umweltbewegung lange eine Art „Held“ war, später als Hamburger Umweltsenator Erneuerbare Energien hoffähig gemacht habe. Und als Manager in der Industrie habe ich Erneuerbare Energien technologisch weiterentwickelt. Aber ich kenne auch ihre Grenzen. Und was den ebenso unsinnigen Vorwurf „unwissenschaftlich“ angeht: Am Ende dieses Jahrzehnts wird sich ja zeigen, ob wir oder das IPCC sich korrigieren müssen. Die Realität wird am Ende entscheiden.






Prof. Dr. Fritz Vahrenholt, der Chemiker, geboren 1949 in Gelsenkirchen, war 1993 bis 1997 Umweltsenator in Hamburg, dann im Vorstand der Deutschen Shell, zuständig für Erneuerbare Energie, und 2008 bis 2012 Chef der RWE-Tochter Innogy für Wind-, Wasser- und Bioenergie. Er publizierte mehrere Bücher, darunter die Bestseller „Seveso ist überall“ (1978) und „Die Lage der Nation“ (1983), der erste Umweltatlas Deutschlands. Zudem: „Die kalte Sonne. Warum die Klimakatastrophe nicht stattfindet“ (2012) und „Unerwünschte Wahrheiten. Was Sie über den Klimawandel wissen sollten“ (2020) Am 20. Juli erscheint: „Unanfechtbar? Der Klimabeschluß des Bundesverfassungsgerichts im Faktencheck“

 www.vahrenholt.net

Foto: Ex-Minister und Ex-Manager Vahrenholt: „So können wir das CO2 halbieren, ohne unseren Wohlstand zu zerstören ... Doch all dies stößt auf den erbitterten Widerstand der Grünen“