© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Der Blick auf den Osten bleibt
Die Kriminalfilmreihe „Polizeiruf 110“ wird fünfzig: Zuschauerquote sichert das Überleben
Paul Leonhard

Der „Polizeiruf“ feiert am 27. Juni Jubiläum. Seit 50 Jahren gibt es den acht Monate jüngeren Stiefbruder des westdeutschen „Tatorts“ dann. Und beide Flimmern noch immer über die Bildschirme des seit 1990 geeinten Deutschlands. Längst teilen sich beide den Sonntagabend, laufen zudem unablässig alte Folgen in den dritten Programmen, selbst die ganz alten, in denen im Vorspann ein Finger die drei Ziffern des Notrufes wählt und bei Alarm weißgrüne Funkstreifenwagen und Mannschaftstransporter aus den Toren der Volkspolizei rasen und Genosse Peter Fuchs (Peter Borgelt) auf seine väterlich-ruhige Art ermittelt, um dann dem überraschten Verdächtigen und seinen Genossen zuzurufen: „Verhaftet!“

Für Kriminalfilme haben die Deutschen seit Erfindung des Genres ein Händchen. „Derrick“ mit Horst Tappert ist ein Exportschlager, bis die Fernsehverantwortlichen wegen der bekannt gewordenen früheren Mitgliedschaft Tapperts in der Waffen-SS alle Filme mit ihm in den Giftschrank verbannten. Der „Polizeiruf“ verkauft sich zu DDR-Zeiten – Produktionskosten eine Million DDR-Mark pro Folge – in 35 Länder, neben sozialistischen auch nach Dänemark, Italien, Schweden und in die Bundesrepublik. Dabei ist er ursprünglich ein Produkt des Kalten Krieges.

War die Auslandsaufklärung der Stasi im Fall des Sandmännchens als Abendgruß für die Kinder noch erfolgreich und kommt mittels eines Kraftakts westdeutschen Plänen zeitlich zuvor, so trifft die „Tatort“-Premiere im November 1970, die mit dem Titel „Taxi nach Leipzig“ auch noch einen Mord in der DDR zum Inhalt hat, die Genossen kalt. Schließlich ist die Krimiversessenheit des Publikums bekannt. Die 1968 eingestellte Reihe „Blaulicht“ war ein Straßenfeger gewesen, hatte mit ihrer letzten Episode eine Zuschauerquote von knapp 70 Prozent erreicht. Aber ihre Folgen, in denen meist (westdeutsche) Agenten, Schieber und Schmuggler in der DDR ihr Unwesen treiben, ist nicht mehr zeitgemäß – und etwas Neues nicht konzipiert.

Erich Honecker beklagte die Langeweile im DDR-Fernsehen

Im Arbeiter- und Bauernstaat herrscht ein Krimi-Engpaß und das spannende Unterhaltung liebende Publikum richtet prompt – soweit es technisch möglich war – die Antennen neu aus. Ein Planungsfehler in der Planwirtschaft. Nicht mal SED-Generalsekretär Erich Honecker kann das seinen Untertanen verdenken und beklagt auf dem VIII. Parteitag 1971 die „Langeweile“ im Deutschen Fernsehfunk (DFF). Natürlich sind zu diesem Zeitpunkt die Weichen längst gestellt und der erste „Polizeiruf 110“ abgedreht. Eine Woche nach dem SED-Treffen, am 27. Januar, ist Premiere. Trotzdem gilt der ehemalige Dachdecker aus dem Saarland seitdem als der Initiator des DDR-„Tatorts“.

Das neue Genre „sozialistischer Kriminalfilm“ soll vieles: lehrreich, aktivierend, warnend, verhindernd, abschreckend und interessant sein, einen didaktischen Anspruch verfolgen, zum Nachdenken anregen und die Wachsamkeit der Zuschauer fördern. Die vier Säulen der Wirkungsabsicht heißen „Spannung und Moral, Unterhaltung und Ethik“.

So richtig wohl ist der Propagandaabteilung des Politbüros nicht. Denn wenn Volkspolizisten Kriminalfälle in der DDR aufklären sollen, bedeutet das einzuräumen, daß es in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, die sich immerhin auf dem Weg in den Kommunismus befindet, überhaupt Gesetzesverstöße gibt. „Bei uns gibt es noch Verbrechen – trotz unserer Gesellschaftsordnung. In Westdeutschland gibt es eine Verbrechensexplosion – wegen der Gesellschaftsordnung“, gibt Karl-Eduard von Schnitzler, Chef-Kommentator des DDR-Fernsehens, im August 1971 die Linie vor. 

Die Drehbuchschreiber haben den Spagat zu meistern, die heile Welt des Sozialismus nicht zu diskreditieren und trotzdem spannende Geschichten zu schreiben, um die Zuschauer vom „Tatort“ zurückzuholen. Was offenbar gelingt. Schon die Premiere „Der Fall Lisa Murnau“ ist ein Erfolg und schreibt dazu deutsche Krimi-Geschichte, weil erstmals im deutschen Fernsehen mit Leutnant Vera Arndt eine Frau (mit)ermittelt.

Man habe „Tatort“ und „Derrick“ von den Sonntagsplätzen vertrieben, sagt Dramaturg Lutz Schön rückblickend: „Immer wenn wir parallel gesendet haben – also ‘Polizeiruf’ und ‘Tatort’  auf der gleichen Sendeachse, zur gleichen Zeit –hat sich die Zuschauerzahl beim ‘Polizeiruf’ nicht verändert. Sie ist bei rund sechzig Prozent geblieben.“ 

Die Dramaturgie ändert sich im Laufe der Jahre. Statt Ermittlungskriminalfilmen, in denen der Täter Zuschauern wie Ermittlern erst am Schluß bekannt wird, werden zunehmend Folgen mit offener Täterführung gezeigt, in denen der Zuschauer einen Wissensvorsprung hat. So können die Motive des Täters, meistens sind es Egoismus, Habgier, Besitzstreben, falscher Ehrgeiz oder übertriebener Individualismus, besser erläutert und eingeordnet werden. Morde gibt es nur selten und alle Fälle werden von Ermittlern erfolgreich aufgeklärt, die als sozialistische Vorbilder kein Eigenleben entwickeln dürfen.

Das ändert sich erst, als im Herbst 1997 mit Horst Schimanski (Götz George) ein neuer Krimiheld des Westens auftaucht. Das DDR-Fernsehen läßt einige moralische Ansprüche an die Fernseh-Kriminalisten fallen und führt als Gegenstück zu dem rüden West-Kommissar Leutnant Thomas Grawe (Andreas Schmidt-Schaller) ein.

Der „Polizeiruf“ erzählte den DDR-Zuschauern „eine Realität, die mit seiner Realität identisch war“, sagt Autor Eberhard Görner. Ab den 1980er Jahren seien die Filme immer „realistischer, spannender, psychologischer, auch kritischer, was gesellschaftliche Probleme anbelangt“, geworden. Höhepunkt in der Geschichte der beiden deutschen Krimireihen ist die am 28. Oktober 1990 ausgestrahlte TV-Produktion „Unter Brüdern“, in der Schimanski und Fuchs gemeinsam ermitteln. Damit scheint sich der „Polizeiruf“ erledigt zu haben. Zwei fertige Episoden werden kurzerhand als „Tatorte“ gesendet, und in „Thanners neuer Job“ nimmt Ermittler Fuchs, dem der westdeutsche Thanner als neuer Chef vor die Nase gesetzt wird, sein Jackett und geht wortlos. Ende Dezember 1991 wird der Deutsche Fernsehfunk eingestellt.

Im Gegensatz zum „Tatort“ gibt es viel Lokalkolorit 

Warum der „Polizeiruf“ zwei Jahre später doch reanimiert wird, dazu gibt es verschiedene Lesarten. Die eine verweist auf die hohen Einschaltquoten, die die alten Episoden in den dritten Programmen im Osten erzielen, die andere auf zu wenig vorhandene „Tatorte“, als die ARD den Sonntagabend zum festen Krimisendeplatz etablieren möchte. Der MDR beginnt 1993 neue „Polizeirufe“ zu produzieren, andere Dritte folgen, sogar die Bayern.

Dabei lehnt man sich an das Konzept des traditionellen „Polizeirufs“ an, im Gegensatz zum „Tatort“ gibt es weniger Leichen, weniger Action und dafür viel Lokalkolorit. Mitunter wird mit einem Augenzwinkern erzählt, lassen die Kommissare Gnade vor Recht ergehen, bleiben sogar aufgeklärte Mode ungesühnt. Zum Kult wird Horst Krause als skurriler Dorfpolizist mit Seitenwagenkrad und Schäferhündin.

Was die beiden Traditions-Kriminalserien noch immer unterscheidet, beschreibt Fernsehkritiker Knut Elstermann: „Für den Blick auf den Osten, für seine besondere, noch lange nachwirkende Vergangenheit und widersprüchliche Gegenwart, sind heute eher die ‘Polizeirufe’ zuständig.“ Und dabei wird es bleiben. Zum Jubiläum des „Polizeirufs“ gibt es für den Zwangsgebührenzahler mit Henry Koitzsch (Peter Kurth) und Michael Lehmann (Peter Schneider) ein neues Ermittlerduo in Halle, wo einst die betulichen Kommissare Schmücke und Schneider ermittelten. Fortsetzung folgt.

Fotos: Dreharbeiten zu „Polizeiruf 110“ mit Polizist Horst Krause und Anna Maria Mühe (2004); Oberleutnant Peter Fuchs (Peter Borgelt) ermittelt in einer ursprünglich 1975 verbotenen Folge von „Polizeiruf 110“