© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Sittenstrolche in der Falle
Gruselig: Der tschechische Dokumentarfilm „Gefangen im Netz“ stellt die Perversionen von Internet-Triebtätern bloß
Dietmar Mehrens

Pädokriminalität ist die für das digitale Zeitalter symptomatischste Form von Verbrechen. Im sogenannten Darknet toben sich dunkelste Triebe aus. Vieles geschieht aber auch am hellichten Tag. 41 Prozent der Jugendlichen in Tschechien haben schon mal pornographische Bilder erhalten. Das brachte die tschechischen Dokumentarfilmer Vit Klusak und Barbora Chalupová auf die Idee zu einer verlockenden Falle: Sie engagierten drei junge Frauen, die sogar noch jünger aussehen, als sie sind, machten sie als Schulmädchen zurecht, setzten sie in falsche Kinderzimmer und ließen sie im Netz ein Profil anlegen, auf das eine bestimmte Art Mann anspringen sollte.

Lange mußten die Lockvögel nicht auf ihre Opfer warten. 2.458 Männer bissen während des nur zehntägigen Experiments an. Und lange dauerte es auch nicht, bis die ersten unzüchtigen Wünsche geäußert wurden, während unsichtbare Kameras mitliefen. Wichtig dabei: Bei jeder Kontaktaufnahme wurde sichergestellt, daß der Interessent das vermeintliche Alter des jeweiligen Mädchens (12 Jahre) erfuhr. Das wirkte allerdings nur selten abschreckend.

Sittliche Verwahrlosung in einer pornoverseuchten Welt

Schonungslos enthüllt „Gefangen im Netz“ die sittliche Verwahrlosung einer sexualisierten und pornoverseuchten Welt, deren Bewohner auf der Suche nach immer stärkeren sexuellen Stimulanzen immer skrupelloser und enthemmter agieren. Als die gecasteten Frauen ihre Internetbekanntschaften persönlich treffen und sich ihnen offenbaren, eskaliert die Lage. Es kommt zu Szenen, die in keinem Skript standen. Beinahe körperlichen Schmerz bereitet das Gespräch mit einem der überführten Missetäter, in dem dieser sich mit fadenscheinigen Ausflüchten von dem schmierigen Leim zu befreien versucht, auf den er den Dokumentarfilmern gegangen ist. 

In seinem berechtigten Ansinnen, diejenigen bloßzustellen, die jegliche Moral der eigenen Libido aufzuopfern bereit sind, läßt sich Regisseur Vit Klusak jedoch zu sehr dazu hinreißen, Skandalbilder zu produzieren. Eine Reihe von Obszönitäten der ihm in die Falle Gegangenen sind nicht genügend unkenntlich gemacht. Einige Aufnahmen sind so unerträglich, daß man sich mehr als einmal wünscht, die Leinwand wie ein Fernsehgerät abschalten zu können. 

Auffällig: Die meisten der Männer, die auf die Lockvögel hereinfielen, sind um die Fünfzig. Sie wuchsen also auf in den wilden Siebzigern, in denen Oswald-Kolle-Aufklärungsfilme, Helmut-Kentler-Sexualpädagogik und die sogenannten Kinderläden, die einluden zur sexuellen Erkundung zwischen Kindern und Erwachsenen, nur die schillerndsten Pflanzen einer sittlichen Enttabuisierung waren, die in dem pathogenen Klima prächtig gediehen. Mit dem Internet ist den Kindern der Enthemmung jetzt eine Art Brandbeschleuniger an die Hand gegeben worden. Die sozialen Medien schaffen ein günstiges Umfeld für Pädokriminelle, weil steigende Nutzerzahlen steigende Umsätze bedeuten. Das Ergebnis sind die schockierenden Zahlen, die die jüngsten Ermittlungen zu sexueller Gewalt gegen Kinder zutage förderten. Mit einem Pädophilen-Anteil von drei bis fünf Prozent rechnet im Film eine Expertin. „Sehnsucht nach Anstand“ haben die Dreharbeiten bei einer der Beteiligten wachgerufen.

Als der emeritierte Papst Benedikt XVI., mit über 90 noch bei klarerem Verstand als die meisten seiner deutschen Glaubensbrüder, kurz vor dem Großfeuer von Notre-Dame eine Denkschrift vorlegte („Zurück zu Gott!“), in der er den Zusammenhang entlarvte zwischen Mißbrauch und sexuellem Sittenverfall, konnten seine Gegner gar nicht schnell genug Zeter, Mordio und Sakrileg schreien. „Zu den Freiheiten, die die Revolution von 1968 erkämpfen wollte, gehörte auch diese völlige sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuließ“, schrieb Benedikt und ließ den Skandalsatz folgen: „Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, daß nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.“ Er sprach damit eine unbequeme Wahrheit aus: Mißbrauch und Perversion sind kein Spezifikum der katholischen Kirche, sondern Symptome einer akut vom Untergang bedrohten Säkulargesellschaft, die sich im tückischen Sog eines Strudels befindet, der auch die Domäne des vermeintlich Geheiligten mit nach unten zieht. 

Die Tabubrüche von damals und seine digitalen Erben im weltweiten Netz von heute gehören zum selben Komplex menschlicher Verworfenheit. Mit Kinderpornographie und Pädokriminalität fährt der Westen die Ernte der morbiden Verirrungen ein, die mit der zum Schlagwort gewordenen „spätrömischen Dekadenz“, wie dieser Film zeigt, eher noch verharmlosend beschrieben sind.


Filmstart in ausgewählten Kinos: 24. Juni