© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Ein Geisterseher in der Bürgerwelt
Wie man den messianischen Marxisten Walter Benjamin verharmlost: Zwei US-Literaturwissenschaftler haben eine neue Biographie des Philosophen vorgelegt
Wolfgang Müller

Um 1960 war Walter Benjamin im akademischen Milieu der Bonner Republik bestenfalls ein Geheimtip. Heute setzt ein rascher Zugriff auf den virtuellen Katalog der Berliner Staatsbibliothek, den „Stabikat“, darüber ins Bild, daß der Kurswert des 1933 emigrierten deutsch-jüdischen Philosophen seit Jahrzehnten unaufhörlich gestiegen ist. Mit dem kräftigen Wind der 68er-Bewegung im Rücken, geriet die Beschäftigung mit Person und Werk des Denkers derart in Mode, daß vor dem Mauerfall für Studenten der Philosophie und Germanistik die Nicht-Teilnahme an einem der tausend westdeutschen Benjamin-Seminare fast ins soziale Abseits führte.

Diese Rezeptionswelle flachte seitdem langsam ab, aber der Ausstoß an Benjamin-Literatur bewegte sich weiterhin auf hohem Niveau. 3.367 Titel listet die Berliner Staatsbibliothek derzeit auf. Längst nicht so viele wie zu Karl Marx (13.865), dem Tabellenführer unter den Gesellschaftstheoretikern und politischen Philosophen, aber schon zu einem Titanen wie Max Weber (4.262) ist der Abstand relativ gering. Während Benjamin typische 68er-Gurus wie Foucault (2.031), Adorno (1.899) und Habermas (1.639) und erst recht intellektuell anspruchslosere neoliberale Ikonen wie Hayek (449) und Mises (241) locker auf die Plätze verweist.

Jede Lebensstation mit Freude am Detail erzählt

Besteht also in Sachen Benjamin an Monographien und Aufsatzsammlungen ersichtlich kein Mangel, ist es um so verwunderlicher, wenn nun zwei US-Literaturwissenschaftler, Howard Eiland (Massachusetts Institute of Technology) und Michael W. Jennings (Princeton University), die, wie ein hellseherisch begabter Rezensent im Wall Street Journal jubelte, „umfassendste Benjamin-Biographie, die wir jemals haben werden“, auf den Buchmarkt werfen. Genaugenommen auf den deutschen Markt, denn die Übersetzung ihres tausendseitigen Ziegelsteins ist, mehrfach angekündigt und verschoben, hierzulande erst Ende 2020, sechs Jahre nach der  US-Ausgabe erschienen.

Eiland und Jennings, beide in der angelsächsischen Welt als verdienstvolle Benjamin-Herausgeber und Übersetzer anerkannt, glauben trotz des „veritablen Anstiegs der Beschäftigung“ mit einem inzwischen weltweit rezipierten Autor noch Aufklärungsbedarf befriedigen zu müssen. Denn in der nur schwer überschaubaren Forschung würden zu viele Studien, egal ob biographisch, philosophiehistorisch oder literaturwissenschaftlich, zu selektiv verfahren und ließen „ganze Bereiche von Benjamins Werk außer acht“. Aus solchen fragmentarischen Rekonstruktionen eines imponierenden Œuvre seien verzerrende, ja „mythologisierende“ Engführungen entstanden. Man selbst habe sich daher eine „weiter gespannte Behandlung“ zum Ziel gesetzt, die chronologisch vorgehe und den Schwerpunkt auf die „tagtägliche Realität legt, aus dem Benjamins Schreiben erwächst“. Mit einer derart ambitionierten Berücksichtigung ihres „intellektuell-historischen Kontextes“ wolle man wenigstens die wichtigsten Arbeiten eines „polyzentrischen Denkers“ durchleuchten, der sich als ein auf vielen Feldern, von der Goethe-Interpretation bis zur Filmbesprechung, brillierender Homme de lettres schwer in Schubladen sortieren lasse.

So breiten die beiden Autoren denn mit Behagen ihr Material aus, widmen sich jeder Lebensstation mit der Freude am Detail, stilsicher erzählend und zitatenselig, aber nichts Neues bringend. Wie angekündigt streng chronologisch, führt die für Novizen in der Benjamin-Gemeinde gewiß kurzweilige Schilderung von der Berliner Kindheit des 1892 geborenen Großbürgersohns über die Sozialisation im Umfeld der Jugendbewegung, Studium, Flucht vor dem Militärdienst in die Schweiz bis zur Rückkehr in die Heimat. Wo der intellektuelle Außenseiter halbherzig eine Universitätskarriere zu starten versucht, die 1925 endet, als man ihm in Frankfurt rät, das als Habilitationsschrift eingereichte, als absolut unverständlich eingestufte Manuskript „Über den Ursprung des deutschen Trauerspiels“ zurückzuziehen. Ein Scheitern, das ihm, dank der Förderung Hugo von Hofmannsthals hilft, sich seinen Lebens-traum zu erfüllen, Deutschlands Literaturpapst zu werden. Diese Position ist um 1930 beinahe erreicht, als ihm das journalistische Schreiben erstmals eine auskömmliche Existenz ermöglicht –  mitten in der von der Weltwirtschaftskrise eingeläuteten Agonie der Weimarer Republik. Es folgt der jähe Absturz ins Exil, das trotz materieller Not für Benjamin auch eine Periode höchster geistiger Produktivität einläutet, die erst im September 1940, nach einer gescheiterten Flucht über die Pyrenäen, mit dem Freitod endet. Allein diesen kurzen Exiljahren widmen Eiland und Jennings die Hälfte ihrer Hagiographie. 

Das Historische bleibt eigentümlich blaß

Zu nichts anderem als zu einem solchen Heiligenleben haben die beiden Verfasser ihren Stoff verarbeitet. Die Bewunderung, die ihnen die „Kraft seiner Ideen“, die Schärfe seiner kulturkritischen Analysen und der „mit nichts zu vergleichende Benjaminsche Stil“ abnötigt, trübt den Blick dafür, daß sie es hier mit einem Denker zu haben, den sie zwar nicht zu Unrecht in die Nähe Heideg-gers und Wittgensteins rücken, dessen kryptische Hauptschriften jedoch, das „Trauerspiel“-Buch, der Hofmannsthal begeisternde Essay über Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, das legendäre „Passagen-Werk“ der Pariser Exiljahre, am selbstgewählten Rand des Sagbaren siedeln. Doch zum Verständnis dieser hermetischen Texte, deren kryptische Botschaften wunderlich mit Benjamins anhaltender „Popularität“ bei Doktoranden und Feuilletonisten kontrastiert, trägt ihr Opus wenig bei. Weil es sich eben nicht ausreichend, wie versprochen, um die Erhellung ihrer „intellektuell-historischen Kontexte“ kümmert.

Das Historische, soweit es die politische Geschichte Weimars meint, bleibt eigentümlich blaß, vergleicht man die Darstellung mit Werner Fulds nicht veralteter Benjamin-Biographie „Zwischen den Stühlen“ (1979). Anders als Fuld ahnen die beiden linksliberalen US-Amerikaner nichts von den gewaltigen Spannungen, die der auf deutschem Boden ausgetragene Weltbürgerkrieg erzeugte. Daher fehlt ihnen auch jedes Gespür für die Radikalität, mit der die erste deutsche Demokratie abgelehnt wurde. Entsprechend taucht Carl Schmitt nur als Stichwortgeber für das „Trauerspiel“-Buch auf, ohne darauf einzugehen, wie einig sich der ultranationalistische Staatsrechtler und der mit Stalins Diktatur liebäugelnde Kosmopolit in der fundamentalistischen Ablehnung der auf „Ausbeutung und Ungerechtigkeit“ fußenden, von Korruption zerfressenen bürgerlichen Demokratie gewesen sind.

Es ist wohl diese Radikalität eines „Geistessehers in der Bürgerwelt“ (Ernst Fischer), der schon als Schüler überzeugt davon war, daß „alles anders werden muß“, und der Marxens Kritik der bürgerlichen Ökonomie um eine Kritik ihres ideologischen Überbaus ergänzte, von der Eiland und Jennings glaubten, sie dem amerikanischen Publikum nicht zumuten zu dürfen. Ebensowenig den von der jüdischen Mystik inspirierten, auf „höhere Wahrheiten“ als denen von Wachstum und Profit vertrauenden, zuletzt von Lorenz Jäger stark gemachten „messianischen Marxisten“ (JF 13/17). Und schon gar nicht mehr vermittelbar im Ursprungsland des Aufstands gegen „alte weiße Männer“ ist offenbar jener Bildungsbürger Walter Benjamin, der die „geistigen Schätze der Deutschen“ vor den Barbaren retten wollte. Die nicht immer braune Uniformen tragen müssen.

Howard Eiland/Michael W. Jennings: Walter Benjamin. Eine Biographie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, gebunden, 1.021 Seiten, Abbildungen, 58 Euro