© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Verzerrte Wahrnehmung führt zu falschem Umgang mit den Lebensrisiken
Sicher ist nur die Endlichkeit
Ulrich van Suntum

Der preußische Regierungsassessor Hermann Heinrich Gossen hat nur ein einziges Buch geschrieben. Das aber machte ihn weltberühmt, wenn auch erst nach seinem Tod. Denn seine 1854 erschienene Abhandlung „Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln“ beschrieb tatsächlich fundamentale ökonomische Prinzipien, die bis heute als „Gossensche Gesetze“ allgemein anerkannt sind. Demnach ist der Nutzen eines Gutes keine konstante Größe, sondern hängt sowohl von der subjektiven Einschätzung der Menschen als auch von seiner verfügbaren Menge ab. Zum Beispiel kann ein Glas Wasser in der Wüste wertvoller sein als ein Diamant, und im sächsischen Ort Schneeberg soll während einer Hungersnot ein ganzes Haus für einen Laib Brot verkauft worden sein. Bei reichlicher Verfügbarkeit kann dagegen der Wert eines Gutes sogar gegen Null gehen.

Dieses „Gesetz des sinkenden Grenznutzens“ gilt auch für immaterielle Güter wie Gesundheit, Sicherheit und Umweltqualität. Anders als viele Juristen und Politiker glauben, ist auch ihr Wert keine absolute oder gar als unendlich anzusetzende Größe. Das zeigt auch schon die Alltagserfahrung: Wir schnallen uns zwar an beim Autofahren, tragen aber anders als Formel-1-Rennfahrer nicht auch noch Schutzanzug und Helm. Denn dazu ist das Unfallrisiko im normalen Straßenverkehr einfach zu gering und die Unbequemlichkeit des zusätzlichen Sicherheitsgewinns zu hoch.

Auch das ist ein universelles ökonomisches Prinzip: Je höher die Ansprüche geschraubt werden, desto mehr nehmen bei sinkendem Nutzengewinn die Kosten zu, und zwar überproportional. Denn natürlich wird man immer zuerst diejenigen Maßnahmen treffen, die am wenigsten Aufwand verursachen. So sind etwa die ersten Tonnen CO2-Einsparung in einem Land meist relativ preiswert zu erreichen. Je ehrgeiziger die Ziele gesteckt werden, desto teurer wird es aber. Mittlerweile reden wir in Deutschland über Kosten in Höhe von 1.000 Euro pro Tonne und mehr, während die gleiche Einsparung in Schwellenländern oft für wenige Cent zu erreichen wäre. Es wäre daher klüger, diese Länder für entsprechende Anstrengungen zu bezahlen, als hierzulande einen geradezu irrsinnigen Aufwand für den gleichen Umwelteffekt zu betreiben.

Aber auch bei anderen Risiken als dem Klimaschutz verstößt die Politik regelmäßig gegen die Gossenschen Prinzipien. Nach dem Motto „Sicherheit geht vor“ werden zum Beispiel die Feuerschutzvorschriften ständig bis ins Absurde verschärft, obwohl Brandopfer mit lediglich 0,04 Prozent ganz am unteren Ende der Todesursachenstatistik auftauchen. Die öffentliche Wahrnehmung der Gefahr ist aber eine ganz andere, auch bedingt durch die oft reißerische Darstellung in den Medien: Ein einziger Hochhausbrand reicht aus, um sofort den Ruf nach noch schärferen Verordnungen erschallen zu lassen. Andererseits hat aber kaum jemand einen Feuerlöscher in seiner Wohnung oder im Auto, da eben in Wirklichkeit die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, ihn jemals benutzen zu müssen.

Hier zeigt sich ein anderes bekanntes Phänomen, nämlich die Neigung, die Kosten der eigenen Sicherheit möglichst dem Staat oder zumindest anderen aufzubürden. So finden viele nichts dabei, einerseits Dieselverbote wegen minimaler Feinstaubgefahren zu fordern, andererseits aber ungeniert dem ungleich gefährlicheren Tabakkonsum zu frönen. Noch deutlicher ist dies bei Tempo-30-Zonen: Die Anwohner sind regelmäßig dafür, denn sie profitieren von weniger Lärm und höherer Sicherheit. Umgekehrt denken sie aber nicht im Traume daran, freiwillig vor den Haustüren aller anderen ebenfalls ihr Tempo entsprechend zu drosseln. Auch ein generelles Tempolimit von 30 Stundenkilometern in Ortschaften oder gar auf Hauptverkehrsstraßen hat zumindest bisher keine Mehrheit in Deutschland gefunden.

Ökonomen sprechen hier von einer Moral-Hazard-Situation: Was dem einzelnen auf Kosten anderer nutzt, erweist sich bei genereller Anwendung als weit weniger erwünscht oder sogar schädlich. Es ist wie in dem bekannten Kino-Paradoxon: Wenn einer aufsteht, um besser sehen zu können, kann er sein Ziel kurzfristig auf Kosten anderer vielleicht erreichen. Tun es ihm aber alle nach, sieht am Ende niemand besser, sondern alle haben dann nur die Bequemlichkeit des Sitzens verloren.

Gerade bei politischen Entscheidungen wimmelt es nur von solchen Fehlsteuerungen. Es gibt kaum ein Industrie- oder Infrastrukturprojekt, das nicht den energischen Protest derjenigen hervorrufen würde, die in der Nähe wohnen. Und kein Verbot und keine Vorschrift kann restriktiv genug sein, solange andere davon betroffen sind und man sich selbst einen auch noch so kleinen Sicherheitsgewinn davon versprechen kann. So lassen sich mühelos Mehrheiten für Tempo 130 auf Autobahnen, Rauchverbote sogar unter freiem Himmel und Maulkorbzwang noch für den kleinsten Zwergpudel finden. Das Problem ist nur: Es sind ständig wechselnde Mehrheiten, und so stellen am Ende wie im Kino alle fest, daß ihre Sicherheit maximiert, ihre Freiheit aber dabei minimiert wurde.

Es kommt hinzu, daß die wirkliche Größe des Problems bei diesen Prozessen oft nur eine untergeordnete Rolle spielt. So steht der Stellenwert der Straßenverkehrssicherheit in der öffentlichen Diskussion in keinem Verhältnis zu den vergleichsweise geringen Risiken, die damit verbunden sind. Die Zahl von 2.724 Toten im Straßenverkehr im Gesamtjahr 2020 mag auf den ersten Blick hoch erscheinen, aber es sind nur 0,3 Prozent aller Todesfälle. Im Haushalt und in der Freizeit kommen jeweils dreimal soviel Menschen um. Und auch die Zahl der Selbstmorde ist mit über 9.000 mehr als dreimal so hoch wie die der Verkehrsopfer. Das individuelle Risiko, ausgerechnet im Verkehr zu sterben, ist also denkbar gering. Es kommt hinzu, daß in den meisten Fällen die Unfallopfer die Fahrzeugführer selbst sind, nicht zuletzt Motorradfahrer, die schon allein gut 20 Prozent der Verkehrstoten ausmachen. Fußgänger und Fahrradfahrer stellen dagegen jeweils nur gut 15 Prozent der Unfallopfer, und auch von ihnen tragen viele zumindest eine Mitschuld an dem Unglück.

Das ist ein wichtiger Punkt, denn er zeigt, daß man durch sein individuelles Verhalten die Lebensrisiken sehr stark selbst beeinflussen kann. Es ist ja jedermanns eigene Entscheidung, ob man Motorrad fährt, keinen Helm beim Radfahren aufsetzt oder mit Kopfhörern im Ohr und auf das Handy starrend über die Straße läuft. All dies sollte in einer freiheitlichen Gesellschaft erlaubt sein und ist auch keineswegs irrational, im Gegenteil. Schon Gossen wußte, daß die Präferenzen und Risikoneigungen der Menschen höchst unterschiedlich sind. Nur wenn man ihnen entsprechende Wahlmöglichkeiten läßt, können sie deshalb Nutzen und Risiken ihres individuellen Lebensstils optimieren. Zwingt die Politik sie dagegen zu einer für alle einheitlichen Lebensweise, wobei dann womöglich noch ideologische Vorgaben einfließen, dann werden die Menschen am Ende nicht glücklicher, sondern sind Gefangene in einem goldenen (oder grünen) Käfig.

Das heißt natürlich nicht, daß man keine Regeln und Grenzen bräuchte. Diese können aber nur da gerechtfertigt werden, wo unmittelbar die Interessen Dritter mitbetroffen sind. Und auch dann haben Leben und Gesundheit keinen absoluten Stellenwert, sondern sind stets abzuwägen gegen das ebenso legitime Interesse der Menschen an einem selbstbestimmten, verantwortungsvollen Leben. Denn am Ende ist nur eines sicher im menschlichen Leben, nämlich seine definitive zeitliche Begrenzung. Warum sollten allein die Ängstlichsten bestimmen, wie dieses für alle auszusehen hat?

Ohnehin läßt sich nicht jedes „Restrisiko“ ausschließen, und zwar aus ganz prinzipiellen Gründen. Denn die Lebenserwartung ist in den Industrieländern mit all ihrem Verkehr, ihren Umweltproblemen und Genüssen wie Tabak und Alkohol nicht etwa geringer, sondern ungleich höher als in den scheinbaren Paradiesen, wo Menschen in weitgehend unberührter Natur, aber eben auch in materieller Armut leben. Darum dürfen wir bei der Abwägung zwischen Risiken und Nutzen unserer Lebens-weise niemals nur den jeweiligen kleinen Ausschnitt betrachten. Vielmehr gilt es, die Vorzüge und Nachteile unserer Zivilisation insgesamt im Blick zu behalten. Dann stellt sich manches anders dar als aus der grünen Froschperspektive.






Prof. em. Dr. Ulrich van Suntum, Jahrgang 1954, lehrte von 1995 bis 2020 Volkswirtschaft an der Universität Münster. Auf dem Forum stellte er zuletzt Reflexionen über das Schachspiel an („Zeit und Ewigkeit“, JF 52/20).

Foto: Sicherheitsgurt: Wir schnallen uns im Auto zwar an, tragen aber nicht noch Schutzanzug und Helm. Jedes kleine Restrisiko ausschließen zu wollen, würde uns der Lebensqualität berauben