© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Das beherrschte Sehnsuchtsland
Der Historiker Philipp Ammon beleuchtet die Geschichte Georgiens in Beziehung zu Rußland
David Engels

Die Beziehungen zwischen Georgien und Rußland sind einer der wohl deutlichsten Beweise für die Kraft des angeblich Irrationalen, ist das Verhältnis doch von einer komplexen Ambivalenz, der mit dem üblichen Instrumentarium der klassischen sozio-ökonomischen Betrachtungsweise von Politik nicht beizukommen ist. So hegen zwar die Russen seit frühesten Zeiten eine ausgesprochene Liebe für Georgien, das schon in mittelalterlichen Texten als quasi-mediterranes Wunschland des Überflusses erscheint, während die Georgier in den Russen den schützenden orthodoxen Bruder wahrnehmen, dessen kulturelle Leistungen sie bis heute bewundern. Aber als Kehrseite der Medaille haben sich die Russen während der langen Jahrhunderte ihrer Hegemonie über Georgien als weitgehend unfähig erwiesen, die nationalen, vor allem religiösen Besonderheiten des Landes gebührend zu respektieren, während die Georgier selbst zwar mit großer Empfindlichkeit jenen Mangel an Respekt für ihre nationale Identität verzeichnet haben, sich aber bis heute überaus schwertun, verantwortungsvoll alternative staatliche Strukturen aufzubauen, und ihr Scheitern allzu gerne den Folgen russischer Besatzung aufbürden – so die Grundthese der von Philipp Ammon erstmals 2015 vorgelegten und 2020 bei Klostermann neu veröffentlichten, feinfühligen und hochintelligenten Analyse der russisch-georgischen Beziehungen.

Zunächst skizziert der Autor in Kürze die Geschichte Georgiens von der Christianisierung im frühen 4. Jahrhundert über das „goldene Zeitalter“ des Früh- und Hochmittelalters bis hin zu den traumatischen Erfahrungen der mongolischen Verwüstung und der Unterwerfung unter die sunnitischen Osmanen im Westen und die schiitischen Perser im Osten, die beide gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung eine Islamisierung des Landes durchzusetzen bestrebt waren. Daraufhin behandelt er die Jahrzehnte der unter König Vakhtang einsetzenden allmählichen Hinwendung Georgiens zu Rußland als möglicher Schutzmacht gegen die islamischen Nachbarn im Süden, welche in den Vertrag von Georgïevsk mündete, als Georgien freiwillig zu einem Protektorat Rußlands wurde. Dieses sah sich allerdings außerstande, seine Schutzpflichten effektiv wahrzunehmen und Georgien vor der persischen Bedrohung zu schützen, und so kam es 1795 in der Schlacht von K’rc’anasi zur weitgehenden Verheerung des Landes – ein Ereignis, das den Weg zur vollständigen russischen Annexion des wehrlosen Landes im Jahr 1801 und der Beseitigung der jahrhundertealten georgischen Bagratidendynastie öffnete und bis heute als russischer Verrat gesehen wird. 

Nachdem Ammon hierauf die schwierigen und ambivalenten Beziehungen zwischen Rußland und seinen neuen georgischen Besitztümern nachzeichnet, kommt er zum Kernstück des Buches, nämlich die Festigung der bis heute gültigen Anschauungen: auf der einen Seite die ewige russische Faszination für den Kaukasus und das „reiche“ Georgien als mythische Sehnsuchtsorte (was freilich dem Gedanken der zivilisatorischen Mission Rußlands und später auch den panslawistischen Russifizierungsversuchen keineswegs widersprach); auf der anderen Seite die Bereitschaft der georgischen Eliten zur Anpassung an die als überlegen empfundene russische Zivilisation und das schwierige Zusammenleben von Nationalismus und Russophilie im Herzen des georgischen Adels.

Die georgische Unabhängigkeit 1918 war nur eine kurze Episode

Daran anknüpfend beschreibt Ammon die komplexe Geschichte der georgischen Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen und ihrer zunehmenden Verbindung mit sozialistischem Gedankengut, wobei dem Tifliser Priesterseminar, das der junge Georgier Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, der spätere Stalin, durchlief, eine zentrale Rolle zuzuschreiben ist. Denn ein zentrales Element des russisch-georgischen Streits war die Entscheidung, die georgische Autokephalie, die kirchliche Unabhängigkeit der orthodoxen Nationalkirche,  aufzuheben – aus der Perspektive Georgiens die schlimmste denkbare Form der Einmischung, welche vor allem im Revolutionsjahr 1905 zu intensiven Diskussionen über eine mögliche Restitution der religiösen Unabhängigkeit führte. 

Das letzte Kapitel des Buchs rekonstruiert schließlich die Unabhängigkeitsbestrebungen Georgiens im Kontext des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution, als 1917 zuerst die georgische Autokephalie erklärt wurde, dann, im Schatten von Revolution, Brest-Litowsk, Novemberniederlage und Versailles, verschiedenste Formen transkaukasischer Autonomie durchexerziert wurden. Am 26. Mai 1918 wurde schließlich die georgische Unabhängigkeit erklärt und nach Jahren der Wirren 1920 zunächst auch von sowjetischer Seite anerkannt, bevor das faktische Bündnis Sowjetrußlands mit dem Regime Atatürks den Kaukasus in einen Zangengriff brachte, der im Winter 1920/1921 einen gemeinsamen türkischen und russischen Einfall bewirkte. Dieser beendete im Februar 1921 auch das Ende der georgischen Unabhängigkeit. Georgien wurde erneut Teil der russischen Welt, wenn auch unter bolschewistischen Vorzeichen.

Wie diese Übersicht zeigt, handelt es sich bei Ammons Untersuchung um eine klar strukturierte, gut geschriebene, feinfühlig argumentierende und allgemein hochinteressante Einführung in das russisch-georgische Verhältnis; eine um so dankenswertere Leistung, als das Verhältnis zwischen Rußland und dem Westen gegenwärtig, wenn auch unter völlig anderen Grundvoraussetzungen als während des Kalten Krieges, auf dem Nullpunkt zu sein scheint, und eine Entspannung bitterer nötig als je zuvor ist. 

Eine solche ist aber unmöglich ohne eine umsichtige Einbeziehung der jeweiligen zwischenstaatlichen kulturellen Erfahrungen, Wunschvorstellungen und Traumata – ein Vorgehen, das freilich heute, in einem Zeitalter, in dem nationale Eigenheiten und historische Kollektivgrößen zunehmend in ihrer Existenz negiert oder bewußt zugunsten von unausgereiften Konzepten wie „Multikulturalismus“ und „Pluralismus“ unterdrückt werden, schwerer denn je ist: „Das vermeintliche Weltbürgertum liberaler Intellektueller erwies sich oft nur als Nationalismus höheren Destillationsgrades, ohne Hemmschuh einer überlieferten ausbremsenden Anthropologie. (…) Gleichzeitig schlägt das Bewußtsein nationaler Unfehlbarkeit in Georgien nicht selten um in Selbstverleugnung, Ablehnung der eigenen Kultur und Geschichte, bis hin zur geradezu unbefangenen Bereitschaft zum politischen Hoch- und Landesverrat. […] Ist das Oszillieren zwischen Amoral und Hypermoral nicht auch ein Wesensmerkmal modernen Bewußtseins, einer aus den Fugen des Ordo geratenen Welt?“

Philipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2020, broschiert, 238 Seiten, 29,80 Euro