© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Mahnmal des deutschen Versagens als Großmacht
In schmerzlicher Liebe umworben: Straßburg und die Reichslande Elsaß und Lothringen
Dirk Glaser

Am 20. Juni 1940 meldete der Wehrmachtbericht: „Das deutsche Straßburg wurde von Süden und Osten genommen, auf dem Straßburger Münster weht die Reichskriegsflagge.“ Zwei Wochen später, der Westfeldzug war siegreich zu Ende gegangen, schrieb ein fühlbar ergriffener Friedrich Meinecke seinem Schüler und Freund, dem Göttinger Historiker Siegfried A. Kaehler: „Freude, Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auch für mich dominieren. Und Straßburgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das Herz nicht schlagen.“

Meinecke war kein Freund des NS-Regimes, das den einflußreich gebliebenen Emeritus 1935 aus seiner letzten Machtposition als Herausgeber der Historischen Zeitschrift verdrängt, als Relikt einer überlebten „liberalistischen“ Geschichtsschreibung verhöhnt und in die innere Emigration gezwungen hatte. Und trotzdem: „Straßburgs Wiedergewinnung!“ Flugs knüpfte der alte Herr zwar die Hoffnung an seinen Jubel, dieses Heer, „die größte positive Leistung des 3. Reiches“, werde das Gewicht des Triumphes über den französischen „Erzfeind“ in die Waagschale werfen, damit „auch im Innern ein freierer Atemraum für unser einen sich bilden könne“. Aber das tiefempfundene Glück, die absehbare „Wiedergewinnung“ des 1919 im Versailler Vertrag an Frankreich abgetretenen Elsaß noch erleben zu dürfen, überwog doch für den Moment den selbst davon nicht zu trennenden politischen Gram.

Straßburg als Erinnerungsort deutscher Bildungsbürger

Für den Ur-Preußen Meinecke war Straßburg schon deshalb eine Herzenssache, weil er 1901 dort, an der Kaiser-Wilhelm-Universität, seinen ersten Lehrstuhl erhalten und die „Reichslande“ Elsaß und Lothringen liebgewonnen hatte. Die Euphorie des Briefes an Kaehler wird jedoch nicht nur von persönlichen Erinnerungen befeuert. Aus ihr spricht mehr noch die Faszination, die der „Erinnerungsort“ Straßburg auf Generationen deutscher Bildungsbürger ausübte. Ihnen vermittelt durch Goethes „Dichtung und Wahrheit“. In dieser Autobiographie schildert der Dichterfürst, der 1770/71 sein juristisches Studium in Straßburg abschließt, wie er dort seine Erziehung zur Weltoffenheit durchlief – eingebettet in die auch an der Universität dominierende Leitkultur des deutschen, protestantischen Bürgertums der knapp hundert Jahre zuvor von Ludwig XIV. im „Raubkrieg“ 1681 annektierten Freien Reichsstadt. 

Shakespeare war der Heros des literarischen Zirkels, dem er angehörte und dessen poetische Praxis die Entdeckung des englischen Klassikers nachhaltig prägte. Drei französische Zeitgenossen, Diderot, Rousseau und Voltaire, in Straßburg so eifrig gelesen wie in Paris, erweiterten den provinziellen Horizont des Frankfurter Patriziersohns. Und die Straßburger Begegnung mit dem Ostpreußen Johann Gottfried Herder machte ihn mit der Aufklärungskritik des Königsbergers Johann Georg Hamann vertraut, lehrte ihn, die Welt geschichtlich zu verstehen und Völker als „Gedanken Gottes“ zu begreifen. 

Der Goethe-Verehrer Meinecke zeichnet diese spezifisch deutsche, aus der Opposition gegen den westlichen Glauben an die Autonomie des von allen Unverfügbarkeiten des Daseins abgelösten, atomisierten Vernunftsubjekts erwachsene Tradition historisch-metaphysischen Denkens präzise nach. Sein auf Möser, Herder und Goethe konzentriertes Alterswerk über „Die Entstehung des Historismus“ (1936) beschreibt dieses Phänomen genau. Sich darauf zu besinnen, dazu lädt die Chiffre Straßburg ein zu einer Zeit, in der das politisch auf Multikulturalismus konditionierte Bundesverfassungsgericht den partiell ethnisch definierten Volksbegriff Herders obszön geschichtsfälschend zum „zentralen Prinzip“ der NS-Ideologie umdeutet.

Für die von Residenzen des Zeitgeistes wie der Klassik-Stiftung Weimar und dem Berliner Wissenschaftskolleg unterstützte Redaktion der Zeitschrift für Ideengeschichte gab Karlsruhe natürlich nicht den Anlaß, um „da mal nachzuhaken“ (Walter Kempowski). Aber im Windschatten von 150 Jahre Reichsgründung  das Sommerheft (2/2021) dem Thema „Jenseits von Straßburg“ zu widmen, ist ein origineller Einfall. Und den Einband mit „faschistischer Ästhetik“ zu schmücken, Adolf Hitler auf Straßburg blickend, aufgenommen Ende Juni 1940 von seinem Leibfotografen Heinrich Hoffmann, soll wohl provozieren. Zumal dem jovial dreinschauenden „Führer“ niemand ansieht, daß er „mehr aus dem Völkermord kommt“, der im besetzten Polen im Herbst 1939 bereits angelaufen war.

Aber das soll es dann schon gewesen sein mit dem Gratismut in Sachen Straßburg. Folgt die Komposition des Heftes doch der strengen Regie linksliberaler Geschichtspolitik. Wärmstens empfiehlt die Redaktion darum einen Beitrag über die 1929 an der Université de Strasbourg etablierten, sozial- und wirtschaftshistorisch ausgerichteten Annales-Geschichtsschreibung, die so herrlich „Grenzen der Nationen, Epochen, Disziplinen verflüssigt“ habe. 

Die deutsche Antwort darauf, die trotzige Neugründung einer Reichsuniversität im November 1941, gespiegelt in den hier erstmals in Auszügen publizierten Erinnerungen des Staatsrechtlers Ernst Rudolf Huber, kann dazu nur die düstere Kontrastfolie bilden. Das Konzept geht zwar gründlich schief, weil Ewald Grothes und Ulf Morgensterns als Interpretation von Hubers Eröffnungsvorlesung „Aufstieg und Entfaltung des deutschen Volksbewußtseins“ gedachter Essay „Volksbewußtsein im Schatten Stalingrads“ rein gar nichts über den Inhalt verrät, um sich desto hektischer über das „kaskadenartige Pathos“ des Vortrags zu echauffieren. 

So bleibt es dem 1903 geborenen Huber selbst vorbehalten, den „Zauber“ der Stadt zu erklären, die auch seine Generation „mit schmerzlicher Liebe“ umwarb. Die Zabern-Affäre habe 1913 allerdings ahnen lassen, was die freudige elsässische Begrüßung französischer Truppen im November 1918 offenbarte: Es war seit 1871 nicht gelungen, einen „der Substanz nach deutschen Stamm aus der Entfremdung zurückzugewinnen“. Die lokale Posse in der niederelsässischen Garnisonsstadt Zabern, in der sich ein naßforscher preußischer Leutnant in der Pose des Besatzers abfällig über die einheimischen „Wackes“ äußerte, eskalierte damals zu einem handfesten politischen Streit, der die Beziehung der Einwohner des „Reichslandes Elsaß-Lothringen“ zur Zentralmacht in Berlin nachhaltig erschüttern sollte. Straßburg als Hauptstadt des Elsaß erinnerte daher stets an ein tief schmerzendes „deutsches Versagen“ als europäische Großmacht. Friedrich Meinecke gab sich 1940 für einen Moment der Illusion hin, dies ließe sich ausgerechnet von jenem Regime wiedergutmachen, das dieses Versagen durch die Behandlung „der Substanz nach“ nicht-deutscher Stämme zur Katastrophe ausweiten sollte.