© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Plädoyer für die Bodenständigkeit
Der Ökonom Max Otte blickt melancholisch auf Deutschland mit seinen schwindenden traditionellen Institutionen
Gernot Facius

Zwei Jahrzehnte war er in der Welt unterwegs und hat an 25 Orten gelebt. Der Ökonom Max Otte (Jahrgang 1964) weiß, wie man solide Investments erkennt und die richtige Anlagestrategie wählt. Nun hat der umtriebige „Crash-Prophet“ auf 286 Seiten eine autobiographische Sammlung prägender Lebenserinnerungen, verknüpft mit dem Versuch einer Gesellschaftsanalyse, vorgelegt: ein Plädoyer für eine solide Bodenständigkeit. 

Der Unternehmer, Fondsmanager und ehemalige Hochschullehrer in Deutschland, Österreich und den USA, vom Handelsblatt als „Krisenerklärer“ geadelt, sucht das Land seiner Kindheit, erzählt von den Menschen, die ihn beeinflußt haben, und kehrt in diesem Buch zum „Ursprung“ zurück, zum „ersten Leben“. Eine geradezu verklärende Erinnerung, eine Liebeserklärung an die Bundesrepublik, wie sie einmal war und ein identitätspolitisches Loblied auf das Dorf. Aber auch ein Buch über Verluste. Der polyglotte ehemalige Professor aus dem sauerländischen Plettenberg blickt auf die Welt von heute aus der Perspektive des aus der Provinz stammenden Aufsteigers aus kleinen Verhältnissen, den Fleiß und Ehrgeiz nach oben führten. 

Drei Institutionen sind bei ihm Signalgeber, „Zeigerpflanzen“ für den Zustand Deutschlands: die Kneipe in dem Eifeldorf, in dem er jetzt heimisch geworden ist („Mein Mikrokosmos“), der Männergesangverein, die Bäckereifiliale in seinem Kölner Stadtviertel. „Sie verkörpern die Kultur, in der ich aufgewachsen bin, wie kaum etwas anderes. Meine Kultur. Ich wußte, daß Deutschland große Probleme hat, wenn diese drei Institutionen nicht mehr da sind. Wie bei Patienten im Endstadium, bei denen multiples Organversagen einsetzt.“ Otte scheut sich nicht zu sagen: Die Kneipe ist keine Banalität, sondern ein Ort von kulturellem Wert, sie ist Wohnzimmer, Infobörse, Heiratsmarkt, aber auch psychotherapeutische Praxis. Seele des Dorfes. 

Und das allmähliche Sterben dieser „Zeigerpflanzen“ stellt er in einen größeren Zusammenhang: „Wie die Insel Avalon verschwindet Deutschland im Nebel der Vergangenheit. Sogar aus den Programmen der großen Parteien werden ‘die Deutschen’ gestrichen. Dort stehen jetzt ‘Menschen’. Immerhin: Noch gibt es das ‘Deutsche Volk’ im Grundgesetz. Aber wie lange noch?“ Hier läßt der Autor pessimistische Töne anklingen. Wenn man nicht höllisch aufpasse, werde in zwanzig oder dreißig Jahren nahezu alles, „was uns zu Deutschen machte“, verschwunden sein, doch die meisten „werden es gar nicht bemerken“. 

Hier meldet sich wieder der Crash-Prophet zu Wort, mit einer deutlichen Kritik an der Globalisierung. Sie hat ein „angelsächsisches Gesicht“. Deutschland werde nicht modernisiert, sondern in das „westliche Herrschaftssystem“ eingefügt und sei somit kontrollierbar. Deutschland, einst die dynamischste Wirtschaft der Welt, werde zu einer fremdbestimmten „Provinzwirtschaft“ herabsinken. Otte, ein CDU-Mitglied mit Sympathien für die AfD und seit Mai 2021 neuer Vorsitzender der Werteunion, hat in mehreren Schriften gegen den „Euro-Wahnsinn“ Stellung bezogen und dabei auf Lenins Ausspruch „Wer die Kapitalisten vernichten will, der muß ihre Währung zerstören“ zurückgegriffen. 

In seinem Buch geht er mit der „unseligen Euro-Rettungspolitik“ im Jahr 2010 ins Gericht. „Mir wurde klar, daß hier ein Kontinent umgebaut wird. Wenn eine Bundesregierung erlaubt, daß die Europäische Union zur Schuldenunion umgebaut wird, dann ist Deutschlands Ende nicht mehr weit.“  Das sagt ein CDU-Mann, ein Mitveranstalter des „Neuen Hambacher Festes“ in Neustadt an der Weinstraße, wo, wie die Tageszeitung Welt registrierte, jährlich „eine Mischung aus Libertären, Konservativen oder auch AfD-Politikern zusammenkommt“; ein ehemaliger Vorsitzender des Stiftungsrates der AfD-nahen Erasmus-Stiftung, der schon an die Zeit nach einem eventuellen CDU-Desaster bei der Bundestagswahl im September denkt. „Wenn das Merkelsche Zerstörungswerk fast vollendet ist“, gab Otte am 23. April zu Protokoll, würden in der CDU noch Leute gebraucht, „wenn wir eine Politikwende haben wollen in Deutschland“. 

Die Meinungsfreiheit gehe Schritt für Schritt verloren

In einem Video sprach er von „diktaturähnlichen Zuständen“. Die Meinungsfreiheit gehe Schritt für Schritt verloren, zumindest für Menschen, die öffentlich etwas Nichtkonformes sagen wollten, klagt er in seinem Buch: „Sie werden ausgegrenzt, fallengelassen, isoliert.“ Man kann seine „Notizen aus einer anderen Zeit“ auch als Bewerbungsschreiben für eine politische Karriere lesen. Denn Otte fehlt es nicht an Selbstbewußtsein. Er habe, gesteht er, keine Angst, finanziell etwas zu verlieren, denn er gehöre zu den „Begünstigten des Systems“. Turbulenzen stellten für ihn ökonomische Chancen dar. 

Von den vielen Bezeichnungen, die ihm Journalisten gegeben haben, gefällt ihm „Seher“ am besten. Warum? „Propheten und Seher geben nicht nur Zukunftsprognosen ab. Sie deuten seit jeher auch die Gegenwart. Die An-Schauung.“ Das sei seine Aufgabe: „Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen. Und ich sehe Dinge, die vermeintlich alle sehen, die allen bekannt sind, in einem anderen Licht.“ Bescheidenheit belegt in seinem persönlichen Tugendkatalog nicht einen der vorderen Plätze. Das letzte Kapitel des Buches trägt den beziehungsreichen Titel „Der letzte Deutsche“. Und man geht vermutlich nicht fehl, wenn man vermutet, auch der Autor zählt sich zu dieser Spezies. 

Max Otte: Auf der Suche nach dem verlorenen Deutschland – Notizen aus einer anderen Zeit. Finanzbuch Verlag, München 2021, gebunden, 287 Seiten, 25 Euro

Foto: Ländliche Morgenidylle eines Dorfes im Mittelgebirge: Wie die Insel Avalon verschwindet Deutschland im Nebel der Vergangenheit