© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Willkommenskultur in der Schuldgemeinschaft
„Holocaust als Geschichtszeichen“ statt Verfassungspatriotismus: Aleida Assmanns Konzept einer postmigrantischen Gesellschaft
Thorsten Hinz

Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann reiht sich ein in die Fronde linker und liberaler Intellektueller, die das Heil Deutschlands und der Welt nicht länger im Postnationalismus verorten. Ihr Buch „Die Wiedererfindung der Nation“ wird allerdings mehr von Idealismus und politischer Romantik als von Realitätssinn getragen. Typischerweise beginnt es mit dem angeblichen „Sturm“ auf den Reichstag am 30. August 2020 und endet im Sandkasten im Innenhof des Reichstags, den Hans Haacke „Der Bevölkerung“ gewidmet hat. Doch weil Aleida Assmann eine sehr intelligente Frau ist, gibt es dazwischen auch Kluges und Bedenkenswertes zu lesen. 

Weder versteht sie die Nation als exklusive Gemeinschaft auf der Basis ethnischer Homogenität, noch teilt sie das „Konzept einer postmigrantischen Gesellschaft, die zuletzt als Modell sozialer Kohäsion ohne national-kulturelles Zentrum lanciert worden ist“ (Herfried Münkler). Der „Verfassungspatriotismus“ genügt ihr ebenfalls nicht, denn „(zu) jeder Verfassung gehört ein Epos“, welches die Auslegung selbiger bestimmt. Was für die Deutschen heißt, den „Holocaust als Geschichtszeichen und Kernereignis deutscher Identität“ zu begreifen, sich also als eine Art inklusiver Schuldgemeinschaft zu verstehen. 

Mehr Teilhabe der Migranten als Zukunftsperspektive

Erfreulich sei, so Assmann, daß der negative Thymos-Begriff, der sich in militärischer Stärke und Gewalt ausdrücke, durch einen positiven ersetzt worden sei. So würden die in der Europäischen Union versammelten Nationen ihre Energien darauf richten, „gemeinsam den Nationalismus zu überwinden“.Deutschland stünde jetzt vor der Aufgabe, „den Umbau der Nation in eine Einwanderungsgesellschaft“ zu bewerkstelligen. Dabei dürfe den Einwanderern nicht einseitig eine „deutsche Leitkultur“ verordnet werden. Man müsse ihnen vielmehr „Zukunftsperspektiven“ eröffnen und „gesellschaftliche Teilhabe“ ermöglichen.

Geht’s noch? Millionen Ausländer, zuletzt vor allem junge Männer, sind ungehindert über die Grenze gekommen und haben voraussetzungslos teil am deutschen Sozialstaat. Allerdings bringen sie tatsächlich den nötigen Thymos – unverstellte Lebenskraft – mit, um ihren Ansprüchen Nachdruck zu verleihen. Die Zukunftsperspektiven, die sie einfordern, beschränken sich dabei längst nicht mehr auf soziale Mindeststandards. 

Obwohl die judenfeindlichen Demonstrationen in zahlreichen Städten auch einen direkten Angriff auf das – laut Assmann – „Geschichtszeichen und Kernereignis deutscher Identität“ darstellten, ließ eine ängstliche Staatsmacht sie gewähren. Die Kopfgeburt der inklusiven Schuldgemeinschaft ist nun mal ein Irrwitz. Die Gemeinschaft der Schuldigen verfügt nicht über die Kraft, um den Zugezogenen, die von der Schuld unbetroffen sind, die Einhaltung ihrer Regeln abzuverlangen oder gar auf einer Leitkultur zu bestehen. Sie tut demütig Buße, übt sich in Selbstgeißelung und beugt sich dem Selbstbewußten und Stärkeren. Das ist für „Neubürger“ alles höchst unattraktiv. Der Rest-Thymos in dieser Gesellschaft reicht höchstens noch aus, um demonstrierende Querdenker-Omas zu verprügeln.

Aleida Assmanns Buch verlängert die Reihe der Publikationen, die unfreiwilliger Ausdruck unserer Endzeit sind.

Aleida Assmann: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen. Verlag C.H.Beck, München 2020, broschiert, 334 Seiten, 18 Euro