© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Zweiter Pfeil
Rainer Brinkmann

Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Zu einladend scheint mir der noch freie Platz auf der polierten Holzbank an dieser sonnenverwöhnten Stelle neben der mächtigen Buche, die sich mit ihrem weit ausladenden frischgrünen Blätterdach darüber wölbt. 

Die Sonnenstrahlen erleuchten das Blattgrün und brechen unregelmäßig funkelnd immer wieder hindurch, um auf die Bank und den Herrn zu treffen, der es sich dort lesend gemütlich gemacht hat. Dieser sieht kurz auf, nickt, lächelt zustimmend. Ich setze mich.

Mein Blick fällt noch einmal auf den Fremden. Heller Anzug, Weste, die Krawatte locker gebunden. Ich erhasche einen Blick auf den Buchtitel. „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller. „Daß jemand sich für die alten Klassiker begeistert, ist auch nicht mehr so verbreitet“, wage ich eine Ansprache. 

Ohne Aufzusehen sagt er: „Es ist alles schon mal dagewesen. Die Klassiker finden zeitlose Antworten auf alles, was uns Menschen bewegt“, und fügt hinzu: „Als liebender Vater trage ich seit Geburt meines Sohnes mein Herz außerhalb des eigenen Körpers. Ich kann nachfühlen, daß Wilhelm Tell einen zweiten Pfeil bereithält, falls seinem Sohn durch den Apfelschuß ein Schaden widerfährt.“

„Falls der Junge Schaden genommen hätte, hätte der zweite Pfeil dem Landvogt gegolten.“

Der ernste Ton in seiner Stimme läßt mich aufhorchen. Ich schaue mich um, als erwartete ich, in der Nähe vielleicht sein spielendes Kind zu entdecken. „Einen zweiten Pfeil?“, frage ich währenddessen, denn an die genaue Szene in Schillers Werk kann ich mich nicht erinnern. „Für den Landvogt, Gessler, der ihn zu diesem Schuß zwang. Falls der Junge Schaden genommen hätte, hätte der zweite Pfeil dem Landvogt gegolten.“

Ich erinnere mich wieder, sehe die Szene vor mir. Der Junge steht am Baum, den Apfel auf dem Kopf, der Vater legt die Armbrust an. Meine Brust zieht sich zusammen. Die wärmenden Sonnenstrahlen beruhigen meine aufgewühlten Gedanken. 

Mit einem Blick auf die Uhr klappt der Fremde das Buch zu. „Ich muß gehen. Meine Frau erwartet mich. Sie hat unseren Sohn zu seinem Impftermin begleitet. Er hat als Schulkind ein Impfangebot erhalten. Wir konnten es nicht ablehnen, nicht wirklich.“ Er verabschiedet sich. Ich sehe ihm lange nach, diesem friedlichen, intelligenten Mann mit der Armbrust und dem Pfeil in seiner Seele.