© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Umgang mit Vertriebenengedenken
Sich selbst der größte Feind
Thorsten Hinz

Schandbar lange hat es gedauert, bis das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ überhaupt eröffnet wurde. Begleitet wurde das Vorhaben von einer moralisierenden, im Modus historischer Inkompetenz geführten Diskussion. Sie hatte schon im Vorfeld jede Hoffnung erstickt, die Ausstellung würde den blutigen Widerruf der deutschen Ostsiedlung, deren Anfänge bis in das 11. Jahrhundert zurückreichen, in seiner Bedeutung und Tragik erfassen, würdigen oder gar betrauern.

Diese nationale Katastrophe mit den Wirtschaftsflüchtlingen kurzzuschließen, die heute glücklich im deutschen Sozialsystem ankommen, ist ein Skandal, aber auch konsequent, wenn man die deutsche Geschichte vor 1945 als Schuldgeschichte und die Bundesrepublik als ein staatsförmig organisiertes Sühneprojekt versteht.

In der Sechsten These von Walter Benjamins Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“ heißt es sinngemäß, in jeder Epoche müsse versucht werden, die Überlieferung von neuem dem zeitgebundenen Konformismus zu entreißen, der sie zu überwältigen drohe. Aktuell heißt das, sich gegen den erinnerungslosen, konformistisch der Hypermoral verfallenen Staat zu stellen. Benjamin fährt fort: „Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ Die Ausstellung in Berlin zeigt: Dieses Land ist sich selbst der schlimmste Feind.