© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

„Erfolgreich verarmt“
Sanierungsfall Berlin: Der Abgeordnete Marcel Luthe – erst FDP-Innenpolitiker, jetzt Spitzenkandidat der Freien Wähler – sorgt in der Landespolitik der Bundeshauptstadt seit Jahren für Stimmung. Jetzt rechnet er in einem Buch mit den Zuständen dort ab
Moritz Schwarz

Herr Luthe, Ihr Buch „Sanierungsfall Berlin“ liest sich wie ein Bericht des Grauens. Wollten Sie einen Horrorschocker schreiben oder meinen Sie das alles ernst?

Marcel Luthe: Natürlich, nur wenn man die Bürger schonungslos aufklärt, kann sich etwas bessern!  

Allerdings schreiben Sie auch, Berlin sei eine Erfolgsgeschichte.

Luthe: Ja, das kommt immer auf die Perspektive an.

Die Leser lechzen nach guten Nachrichten, also bitte! 

Luthe: „Gute Nachrichten“ habe ich nicht versprochen ... Berlin ist eine Erfolgsgeschichte – aus sozialistischer Sicht. 

Oh ...

Luthe: Zum Beispiel ist es unserer Hauptstadt dank Flüchtlingszuweisung nicht nur gelungen, den Wohnraummangel effektiv zu erhöhen; durch das Anmieten privater Wohnungen als „Flüchtlingsunterkunft“ – etwa 44 Quadratmeter für rund 6.000 Euro/Monat – ist ihr auch das Anheizen der Wohnungspreise geglückt. Dazu kommen wirksame Preissteigerungen dank Verteuerung von Bauprojekten durch staatliche Auflagen. Fazit: Die Mittelschicht verarmt erfolgreich, immer mehr werden zu Leistungsempfängern und Gutverdiener als „Immobilienhaie“ zum Feindbild – belohnt mit Brandanschlägen auf ihre Autos. 

Sie wollen sagen, tatsächlich ist Berlin ein „Failed state“? 

Luthe: Ganz und gar nicht! Vorausgesetzt, Sie haben Freunde im Senat. 2004 verkaufte Rot-Rot Tausende landeseigene Wohnungen für rund 230 Millionen Euro. 2019 kaufte man sie für etwa 930 Millionen Euro zurück: fast 700 Millionen in 15 Jahren, nur für das Halten des Bestandes! Auch für Kapitalisten ist Berlin eine Erfolgsgeschichte.

Eindeutig ist bei Ihnen Ironie im Spiel ... 

Luthe: Wie kommen Sie darauf? Na gut, die Mittelschicht bleibt auf der Strecke, sie zahlt im Gegensatz zu den Transferleistungsempfängern unter und den vernetzten Kosmopoliten über ihr die Zeche. Während der rot-rot-grüne Senat – wie zuvor der rot-rote und auch der rot-schwarze – Wettbewerb, Wirtschaft und Freiheit vernichtet und Sozialismus errichtet. So erreicht man das, was für den Klassenkampf nötig ist: zwei einander feindselig gegenüberstehende soziale Gruppen – der Mittelstand stört den Sozialismus doch nur.

Aber Berlin ist doch stolz auf seine Vielfalt und Toleranz!

Luthe: Tatsächlich lebt Rot-Rot-Grün vom Gegeneinander der Menschen hier, das man überall forciert: Radfahrer gegen Fußgänger und Autofahrer, Mieter gegen Vermieter, Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer und so weiter. Gemeinwesen und Demokratie leben aber vom Miteinander. Dazu gehört übrigens auch das Einbeziehen der Extreme. 

Sie meinen die AfD? 

Luthe: Ich meine jede extreme Position – die man abschwächt, indem man mit ihr in Dialog tritt, statt sie durch Ausgrenzung zu verschärfen. 

Ist unsere Hauptstadt denn noch zu retten?

Luthe: Ganz klar, ja! Zwar stimmt, alles was ich schildere wäre in einem funktionierenden Staat unmöglich, hätte zumindest Justiz und Opposition entschieden auf den Plan gerufen. Aber dadurch, daß wir die Probleme benennen und die Ursachen identifizieren, können wir Berlin retten! Wir haben also die Chance, die ganz offensichtlichen Fehler zu korrigieren! 

Und wie? 

Luthe: Solange man noch einen Status quo erfassen kann, es also ein funktionierendes Berichtswesen gibt, kann eine Struktur korrigiert werden. Denn wenn man ein Problem benennen, mit Zahlen, Daten, Fakten und Hintergründen belegen und beschreiben kann – so wie ich es in meinem Buch mache –, steht man auch schon fast vor der Lösung.  

Ist das nicht etwas abstrakt? 

Luthe: Nein, so funktioniert das tatsächlich. Die klassisch-historische Kernaufgabe eines Staates ist, Sicherheit und Freiheit seiner Bürger zu garantieren, also die Grundrechte. So rechtfertigt er überhaupt seine Existenz! Darüber hinaus könnte man – obwohl das nicht meiner Vorstellung entspricht – auf die Idee kommen, den Bürger auch mal hier und da etwas zu erziehen. In Berlin aber ist es genau umgekehrt: Hier versucht die Politik, den mündigen, souveränen Bürger zum Unmündigen zu machen und zu erziehen, ist aber gleichzeitig nicht in der Lage, Sicherheit und Freiheit zu gewährleisten. Aufgabe des Parlaments ist es, den Bürger, den Souverän, genau davor zu schützen – durch Kontrolle der Regierung, aber auch dadurch, daß es ihn informiert. 

Daher also Ihre erhebliche Anzahl an Anfragen im Berliner Abgeordnetenhaus?

Luthe: Nur wenn das Parlament Regierungshandeln hinterfragt und die Regierung zwingt, die Lage zuzugeben, ist der Souverän, der Bürger – indem er so über alle Informationen verfügt –, davor geschützt, bei Wahlen auf Propagandaversprechen der Regierung hereinzufallen, und kann eine wirklich informierte Entscheidung treffen.

Alles doch sehr abstrakt ... haben Sie mal ein Beispiel? 

Luthe: Wie steht es etwa um unsere Jugendämter, was glauben Sie?

Na ja, meistens wird dort doch hoffentlich verantwortungsbewußt gehandelt ...

Luthe: Von Ende der sechziger Jahre bis 2001 wurden im Rahmen des sogenannten „Kentler-Experiments“ in Berlin Pflegekinder von Jugendämtern an vorbestrafte Pädophile vermittelt.

Wie bitte? 

Luthe: Die meisten glauben, so etwas sei heute nicht mehr möglich. Wie Sie in meinem Buch sehen werden, gibt es bis heute sehr ähnliche Methoden, unter unser aller Augen, aber kaum jemand weiß es! Die Hoffnung liegt für mich darin, daß wenn der Souverän davon erfährt und über Informationen verfügt, sich das verhindern läßt. 

Vor dessen Lektüre glaubte ich, Berlin habe drei Hauptprobleme: eine korrupte Partei- und Vetternwirtschaft, lähmende Verwaltung, Beamtenschaft und Öffentlicher Dienst sowie linksideologische Tabus und Verkrustungen. Sie sind da allerdings anderer Meinung. 

Luthe: Das politische Kernproblem ist immer die Haushaltspolitik, weil sie darüber entscheidet, für was wieviel Geld ausgegeben wird. Dahinter steht in Berlin – und nicht nur dort – aber sozusagen ein Metaproblem: OK – die Organisierte Kriminalität. 

Sie meinen die Clans?

Luthe: Nein, das sind allenfalls bandenmäßige Phänome, aber kriminologisch keine OK. Ich meine in erster Linie die Mafia. 

Gibt’s die noch? 

Luthe: Ihre Frage zeigt genau das Problem: Stand sie in den neunziger Jahren noch im Fokus der Medienberichterstattung, ist heute dagegen kaum von ihr zu lesen. Daß dies daran liegt, daß sich die größte und älteste Verbrecherorganisation aus den deutschen Großstädten zurückgezogen hat, kann allerdings nur der Naivste glauben.

Ähm ... 

Luthe: Vielmehr hat sie das getan, was Ziel der OK ist: unentdeckt zu agieren und Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Medien zu unterwandern: Inzwischen wirkt sie massiv in Bereichen wie Immobilien- und Verkehrsgroßprojekte, Müllentsorgung oder dem Gesundheitswesen. Und damit ist sie sogar noch gefährlicher als früher, denn die Großhändlerrolle im Drogen- und Menschenhandel hat sie ja nicht aufgegeben. Mich hat daher höchst alarmiert, daß Berlin 2013 – als einziges Bundesland – das polizeiliche „Lagebild OK“ abgeschafft hatte.

Typisch für die Permissivität linker Regierungen!

Luthe: Nicht doch! Damals waren die Ressorts für Inneres und Justiz von der CDU besetzt – das sollten wir nicht vergessen.

Und wie ist das zu erklären? 

Luthe: Na, entweder weil die OK vollständig besiegt ist – da kann ich ja nur kichern –, oder weil sie die Politik dazu gebracht hat, wie auch immer. Die Clans sind dagegen ein weit geringeres Problem, dem sich die Politik aber gerne widmet, weil das bei Presse und Wählern beliebt ist und erfolgreich davon ablenkt, wie seelenruhig unser Staatswesen lahmgelegt wird.

Sie glauben, die OK lasse sich ebenfalls mit Demokratie besiegen?

Luthe: Natürlich, auch OK kann nur gedeihen, weil der Souverän zu wenig über das Problem weiß. Weil die Vertreter des Souveräns, die Parlamentarier, sich dafür zu wenig interessieren, die Regierung zu wenig kontrollieren und die Bürger zu wenig informieren. Nehmen Sie etwa einen Politiker wie Michi Müller, Berlins „Regierender“. Der konnte sich die Bräsigkeit, seine erratische Coronaverordnungspolitik nicht einmal zu begründen, nur leisten, weil viele Parlamentarier-Kollegen das zulassen. Eigentlich müßte es regelmäßig zu einem Aufschrei der 160 Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses kommen, weil Müller immer wieder zu vergessen scheint, wer Koch und wer Kellner ist! Die Regierung bezieht ihre Legitimität nämlich vom Parlament, dem Vertreter des Volkes, das sie gewählt hat, und sie führt aus, was dieses beschließt. Oder nehmen Sie die letzte Regierungserklärung Frau Merkels vergangene Woche: Die Hybris, mit der sie da den Parlamentariern patzig Nichtantworten gegeben hat, ist pure Verachtung der Demokratie! Eigentlich hätten alle Bundestagsabgeordneten, egal welcher Fraktion, diese Unverschämtheit verurteilen müssen, sich „frei zu machen von dem Untertanengemüt“, wie Herbert Wehner sagte. Der sich das zu seiner Zeit bestimmt nicht hätte bieten lassen, egal welcher Partei der Kanzler angehört, der sich so benimmt. Übrigens: ARD und ZDF hatten nichts anderes zu tun, als in ihrer Berichterstattung Merkels Verhalten als „souverän“, „routiniert“ und sogar „charmant“ zu loben – nicht zu fassen!

2020 haben Sie die FDP verlassen, weil Sie, so der „Tagesspiegel“, „als Liberaler (dort) keine Heimat mehr sehen, da (die FDP) nicht bereit sei, ‘auch gegen eine übergroße Mehrheit und Angriffe (ihre) Überzeugung zu verteidigen und gegen den Strom zu schwimmen’“.

Luthe: Tatsächlich gibt es „die“ FDP nicht. Jede Partei besteht aus Menschen, und da gibt es solche und solche. Es wäre falsch, alle FDP-Mitglieder über einen Kamm zu scheren. Aber wenn Sie sich anschauen, wie oft in der Vergangenheit Zusagen gegenüber dem Souverän nicht eingehalten wurden, dann fehlte es da – mir zu – oft an Haltung. 

Jedoch wurden Sie drei Monate zuvor von Ihrer Fraktion ausgeschlossen. Sind Sie vielleicht nicht „teamfähig“?

Luthe: Was soll der Begriff konkret bedeuten? Ist jemand teamfähig, der sich zurücklehnt und jahrelang zusieht, wie andere ihren Job nicht machen? Dann bin ich das sicher nicht. Wenn es bedeuten soll, daß man mit starken Persönlichkeiten zusammenarbeiten kann, um häusliche Gewalt, Kindesmißbrauch und Organisierte Kriminalität entschlossen zu bekämpfen: dann schauen Sie sich das Team der Freien Wähler in Berlin an!

Deren Spitzenkandidat für die Berliner Abgeordnetenhauswahl im September Sie inzwischen sind. Der „Tagesspiegel“ attestiert den Berliner Freien Wählern allerdings, mittlerweile durch Streit, in dessen Zentrum Sie stünden, „blockiert“ zu sein. Vorwurf: „Hinterzimmerabsprachen“ und Reservierung der ersten vier Listenplätze für Sie und mit Ihnen Verbündete.

Luthe: So ein durchsichtiges Manöver. Es wählt ein Mitgliederparteitag – und der hat jeden einzelnen Kandidaten mit übergroßer Mehrheit, mich selbst mit über 97 Prozent, gewählt. Wo ist da ein Streit? Ist es nicht interessant, wie wichtig wir für manche politische Gegner sein müssen, wenn so ein Märchen verbreitet wird? Offenbar gehen genügend politische Mitbewerber davon aus, daß wir mit unserer ideologiefreien, rationalen Politik das gemütlich gewordene politische Berlin ordentlich bewegen können. Das glaube ich auch – und freue mich darauf, mit der Unterstützung der Berliner ab dem 26. September die Freien Wähler in Fraktionsstärke im Berliner Abgeordnetenhaus und im Deutschen Bundestag zu sehen. Diese Stadt hat mehr verdient!                  






Marcel Luthe, der studierte Ökonom und Unternehmer, geboren 1977 in Bottrop, war zunächst Mitglied der SPD, dann der FDP und Bundesvorsitzender der Liberalen Hochschulgruppen sowie Bundestagskandidat. 2016 zog er als Stimmenkönig der Berliner Liberalen ins Abgeordnetenhaus ein und wurde innenpolitischer Sprecher der Fraktion. Die schloß ihn nach Uneinigkeiten im Juli 2020 aus. Im Oktober verließ er die Partei und trat im April den Freien Wählern Berlin bei, die er als Spitzenkandidat in die Abgeordnetenhauswahl 2021 führt. Im Frühjahr erschien sein Buch „Sanierungsfall Berlin. Unsere Hauptstadt zwischen Mißmanagement und Organisierter Kriminalität“.

Foto: Krisenstadt Berlin (Polizei am Alexanderplatz mit Fernsehturm): „Das Metaproblem – und nicht nur Berlins – sind nicht die Clans, sondern ist die Mafia, die Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Medien unterwandert hat“