© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Vertrieben in den Kontext
Das Dokumentationszentrum zu Flucht und Vertreibung ist in der Bundeshauptstadt eröffnet worden: Das lange umstrittene „sichtbare Zeichen“ präsentiert sich im internationalisierten Gewand
Christian Rudolf

Staatliche Museen anderer europäischer Länder würdigen nationale Großtaten oder kollektives Leiden der eigenen Gemeinschaft. Die Gedenkpolitik in den vormaligen „Bloodlands“ (Timothy Snyder) trägt eindeutig nationale Züge. So ist das Museum des Warschauer Aufstandes in der polnischen Hauptstadt eine bildgewaltige Heiligsprechung der Widerstandsbewegung und eine Anklage gegen die Besatzer; das Museum der Opfer des Genozids in Wilna sowie das Lettische Okkupationsmuseum in Riga dokumentieren und betrauern die Verbrechen, die Litauer und Letten durch Fremdherrschaft im Umfeld des Zweiten Weltkriegs erlitten; das Nationale Museum des Holodomor in Kiew kommemoriert, zeigt und vermittelt den Stalinschen Hunger-Genozid am ukrainischen Volk mit sieben Millionen Opfern und dessen Ableugnung durch die kommunistisch-russischen Täter. Die triumphalen Zentralmuseen des „Großen Vaterländischen Krieges“ in Moskau und Minsk verherrlichen Rote Armee und Partisanenkampf, strahlen ungebrochen sowjetischen Geist aus, inklusive Geschichtsklitterung. Gemeinsam ist allen Ansätzen: Sie stärken und stabilisieren nach innen und tragen zu einem guten kollektiven Selbstbild bei.

Der Fellmantel eines deutschen Jungen, das Fahrrad eines Syrers

Führe mich also durch deine Museen, und ich sage dir, wie dein Staat es mit der eigenen Nationalgeschichte hält. Mitten in der deutschen Hauptstadt ist nun eine Dauerausstellung der Öffentlichkeit übergeben worden, die geschichtspolitisch so umstritten und von Querelen überschattet war wie kein anderes Projekt der zurückliegenden zwanzig Jahre: das lang erwartete neue Dokumentationszentrum der 2008 gegründeten Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, populär geworden unter dem Begriff des „sichtbaren Zeichens“. Doch mit der ursprünglichen Idee des Bundes der Vertriebenen unter Erika Steinbach sowie dem SPD-Politiker Peter Glotz, einen nationalen Erinnerungs- und Trauerort an Flucht, Vertreibung und gewaltsames Ende der 700jährigen Geschichte deutscher Ostsiedlung zu schaffen, hat der Inhalt nur mehr rudimentär etwas gemein. Wie auch, es sollte ja ein Gegenmodell werden; „daß es nicht um ein nationales, sondern um ein europäisch orientiertes Projekt geht“, faßte Wolfgang Thierse, zur Zeit der Stiftungsgründung Bundestagspräsident, dieser Tage den politischen Auftrag zusammen.

Nur der Ort, das ehemalige „Deutschlandhaus“ am Anhalter Bahnhof, ist noch derselbe. Die mächtigen Großbuchstaben des Schriftzugs über dem Haupteingang sind verschwunden, das Gebäude völlig entkernt und feinsinnig neugestaltet ­­– einschließlich Unisextoiletten.

Zwei Etagen für zwei Schauen: Das weite, helle erste Obergeschoß präsentiert in sechs locker gruppierten Themeninseln die Geschichte und Gegenwart von Zwangsmigration in und Einwanderung nach Europa, verursacht durch Krieg, Bürgerkrieg, ethnischen Haß, ökonomische Not – unabgeschlossen, auf die Zukunft hin zu ergänzen. Die Nation wird als ein Konstrukt der Zeit nach der Französischen Revolution eingeführt und sogleich begrifflich mit Nationalismus verknüpft. Weitere Stationen thematisieren hier „Wege und Lager“, „Krieg und Gewalt“, dort „Verlust und Neuanfang“, da „Erinnerung und Kontroversen“. 

An Objekten steht das Bullauge der versenkten „Wilhelm Gustloff“ neben einem Iris-Scanner-Bezahlsystem in einem jordanischen Flüchtlingslager; ausgestellt ist der lebenslang aufbewahrte Fellmantel, der einen Siebenjährigen auf der Flucht aus Ostpreußen im bitterkalten Januar 1945 vor dem Erfrieren bewahrte genauso wie eins der Klappräder, die syrische Wirtschaftsmigranten 2015 auf der arktischen Route von Rußland nach Norwegen verwendeten und sich ihrer gleich nach Grenzübertritt entledigten; auf Videoleinwänden sprechen neben drei deutschen Vertriebenen drei Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien sowie drei ehemalige vietnamesische „Boatpeople“ über ihre höchst unterschiedlichen Neuanfänge in der Bundesrepublik. Das sowjetische Massaker von Nemmersdorf bekommt als Kriegsverbrechen genauso ein Schrankfach wie die Ukraine als aktuelles Beispiel für einen Staat mit einer großen Zahl von Binnenkriegsflüchtlingen. Doch selbst bei Nemmersdorf durfte der volkspädagogisch wesentliche Hinweis nicht fehlen, daß das NS-Regime die Morde „propagandistisch inszenierte“ und „instrumentalisierte“.

Mit Rücksicht auf Sensibilitäten der Vertreiberstaaten

Die eigentliche Vertriebenenausstellung liegt, erreichbar über eine Wendeltreppe, versteckt im zweiten Obergeschoß – tageslichtlos, düsterer beleuchtet, streng angeordnet, in ihrer Kühle beinahe aseptisch. Auf die zusammenhängende Darstellung von Flucht, Vertreibung und Ausmordung der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa ab 1944 und deren Eingliederung in Restdeutschland trifft der Besucher dort nur eingebettet, erwünscht heftig „kontextualisiert“. Die Absicht der Besucherführung ist so durchsichtig wie BRD-volkspädagogisch. Auch visuell haben die Ausstellungsmacher das Kapitel B über „Neuordnung durch Vertreibungen“ verborgen hinter einem epischen Kapitel A mit Behandlung der deutschen Expansionspolitik nach Beginn des Zweiten Weltkriegs; eines Krieges, dessen Ausbruch und Grausamkeiten selbstverständlich allein dem Reich angelastet werden. Eine Feststellung wie beispielsweise die, Edward Benesch habe 1938 die Idee entwickelt, die Zahl der Deutschen im Land „zu verringern“, wird sogleich dadurch abgemildert, der tschechoslowakische Staatspräsident reagiere hiermit nur auf Hitlers Forderung nach Abtrennung des Sudetenlands. „Natürlich haben wir uns auch die jeweiligen nationalen Perspektiven unserer Nachbarn angesehen“, so Stiftungschefin Gundula Bavendamm in der Preußischen Allegemeinen Zeitung, „wir haben geschaut, wo es besondere Sensibilitäten gibt und dies auch in unserer Konzeption berücksichtigt.“ Deshalb: Kein Wort vom polnischen „Westgedanken“, der schon im 19. Jahrhundert Gebietsansprüche bis kurz vor Hamburg entwickelte, kein Wort über den antigermanischen Panslawismus, und Schwamm über das polnische Enteignungsgesetz von 1920. Die systematisch verübte, vieltausendfache sexuelle Gewalt an deutschen Frauen und Kindern ab 1944 – sie wird erwähnt. Und auch in diesem Vertreibungskapitel, im konzeptionellen Kern der Ausstellung, ringen die bewegenden Familien- und Einzelschicksale unserer deutschen Vertriebenen nach dem Willen der Kuratoren gleichsam um Platz und Gehör mit den Geschichten der Zwangsumsiedlung von Polen, Ukrainern, Slowaken und Ungarn nach Kriegsende. Das ist alles interessant und menschlich rührend, keine Frage. Doch man bemerkt die erzieherische Absicht – und ist verstimmt.

Fotos: Treppenaufgang im Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“: Erzieherische Absichten; Aufgegebene Altvater-Heimatstube Gärtringen mit Haushaltsgegenständen, Porzellan, Devotionalien, Gläsern der Glashütte in Würbenthal sowie Ansichten des Wallfahrtsorts Maria Hilf (l.): In Westdeutschland gab es Hunderte dieser Heimatmuseen aus Privatinitiative Handwagen aus der Zeit der wilden Vertreibung: Zur Ikone gewordenes Symbol des Heimatverlustes; Besuch im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung: Ständige Ausstellung (Di.–So. 10 bis 19 Uhr), Bibliothek und Zeitzeugenarchiv (Di.—Fr. 10 bis 19 Uhr) sind seit dem 23. Juni geöffnet. Eintritt frei. Für den Besuch wird eine Eintrittskarte für ein Zeitfenster benötigt, die zu buchen ist unter www.flucht-vertreibung-versöhnung.de. Anschrift: Stresemannstraße 90, 10963 Berlin, S-Bahnhof Anhalter Bahnhof.