© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Kollektive Zerstrittenheit
EU-Gipfel: Corona bringt 750 Milliarden Euro Schulden / Haß auf Ungarn, Geld für die Türkei
Albrecht Rothacher

Beim Regenbogen-Gipfel vom 24. und 25. Juni sollte es hauptsächlich um das Abfeiern jenes im Vorjahr beschlossenen Covid-19-Aufbaupakets „Next Generation EU“ (NGEU; JF 47/20) gehen. Doch das Schuldenprogramm von 750 Milliarden Euro mit einem Rückzahlungszeitraum bis 2058 ist bei dem aktuellen Konjunktur- und Inflationsaufschwung eigentlich überflüssig. Die Staats- und Regierungschefs sowie die EU-Granden prügelten sich dennoch nach allen Regeln der Kunst in der Öffentlichkeit nicht nur ums Geld wie die Kesselflicker.

Es fing an mit einem Brandbrief von 17 der 27 nationalen Regierungschefs gegen das ungarische Kinderschutzgesetz. Diesen hatte der luxemburgische Premier Xavier Bettel – ein Linksliberaler, der 2015 den belgischen Architekten Gauthier Destenay geheiratet hat – zugunsten der „LGBTQIA+“-Lobby initiiert. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, Chef der rechtsliberalen Volkspartei VVD, drohte den Ungarn gar mit einem rechtlich unmöglichen EU-Rausschmiß. Der Nationalkonservative Viktor Orbán hatte allerdings Rückendeckung aus Mitteleuropa, außer natürlich jener von Angela Merkel und Sebastian Kurz.

Dann kam in letzter Minute ein Schreiben der Bundeskanzlerin und des französischem Präsidenten Emmanuel Macron, nach dem Treffen von Joe Biden mit Wladimir Putin in Genf auch Spitzentreffen der EU mit dem Kremlchef wieder aufzunehmen. Politisch und wirtschaftlich eine gute Idee, aber leider zur Unzeit, unvorbereitet und nicht nur von Polen und den Balten abgeschossen. Ein Anfängerfehler, der einem Profi im EU-Geschäft wie Angela Merkel nach 16 Jahren eigentlich nicht unterlaufen sollte.

Vor dem Gipfel tingelte Kommissionschefin Ursula von der Leyen von EU-Hauptstadt zu EU-Hauptstadt, angefangen von Madrid und Lissabon, über Rom, Wien und Preßburg bis Berlin, um bei netten Fototerminen als Lotto-Fee die NGEU-Segnungen zu verkaufen. Deutschland erhält dabei 25,6 Milliarden Euro und Österreich 3,5 Milliarden Euro, für die beide Länder selbst zahlen und für alle haften müssen. Es handelt sich um eine „Aufbau- und Resilienzfazilität“, die die EU-Regierungschefs in der ersten Corona-Panik 2020 beschlossen hatten: 750 Milliarden Euro als vertragswidriges gemeinsames Schuldenprogramm – und zusätzlich zum EU-Haushalt von 1.074 Milliarden für die Zeit von 2021 bis 2027. Beim NGEU handelt es sich um jeweils nahezu hälftig Finanzzuschüsse und Darlehen. Den NGEU-Löwenanteil erhält das mit 156 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an Staatsschulden fast konkursreife Italien. Das Euro-Land darf sich so gratis noch weiter verschulden: mit 69 Milliarden Euro an Zuschüssen und 123 Milliarden Euro an weiteren Krediten für seinen Schuldenberg von 2,7 Billionen Euro. In Deutschland sind es „nur“ 2,3 Billionen Euro – bei einer Schuldenquote von 70 Prozent. Vor Corona waren es nur 59,7 Prozent gewesen.

Künftig weniger Korruption, Betrug und Interessenkonflikte?

Der italienische Premier Mario Draghi versprach aber eine Modernisierung der Verwaltung. Die deutsche EU-Chefin war damit nach einem Jahrzehnt des von Draghi über die EZB mit Negativ-Zinsen finanzierten „dolce far niente“ (süßes Nichtstun) in Rom sehr einverstanden. Die Vorgängerregierung von Giuseppe Conti hatte sich 2020 über die Verteilung des Manna aus Germania, pardon Brüssel, heillos zerstritten. Daher wurde im Februar der ehemalige Goldman-Sachs- und EZB-Banker berufen. Ein Kommissionspapier meint daher, „Interessenkonflikte, Korruption, und Betrug“ könnten nun – anders als in den vergangenen 70 Jahren – wirklich verhindert werden.

Deutschland übererfüllt die Brüsseler Vorgaben (37 Prozent NGEU-Ausgaben für den „Klimaschutz“ und 20 Prozent für die Digitalisierung) mit jeweils 42 bzw. 52 Prozent. Das „größte Investitionsprogramm seit dem Marshall-Plan von 1948“ versickert hierzulande beispielsweise mit je 2,5 Milliarden für Gebäudesanierungen und verlängerte Kaufprämien für E-Autos. Auch Dieselbusse sollen durch elektrische ersetzt und die Ladeinfrastruktur ausgebaut werden. Es handelt sich bei jenem 1.000-Seiten Konvolut namens „Aufbauplan“ eigentlich nur um die Umetikettierung von Teilen des schon im Vorjahr beschlossenen Konjunkturpakets von 130 Milliarden Euro. Angela Merkel versprach nach 16 Jahren Kanzlerschaft sogar den „Abbau von Investitionshindernissen“. Alle Ausgabenpläne der 27 EU-Länder sollen streng auf Klimaschutz, Digitalisierung und Nachhaltigkeit hin überprüft werden. Nur Ungarn solle nichts bekommen, verlangte Stefan Löfven. Doch der über ein Mißtrauensvotum gestürzte schwedische Sozialdemokrat reichte am Montag auch selbst seinen Rücktritt als Ministerpräsident ein.

Zwei entscheidende Fragen stellen sich bei jenem „Helikopter-Geld“, die der Europaabgeordnete Markus Buchheit (AfD) jüngst an die EU-Kommission richtete: Werden die auf den Kapitalmärkten aufgenommenen Mittel weitgehend als Anleihen von der EZB und anderen Zentralbanken angekauft – sprich: mit frisch gedrucktem Geld bezahlt, die weiter ohne Gegenwert die Inflation anheizen? Und wie soll die Tilgung nebst Zinsdienst bis zur verheißenen Fälligkeit mit der Gesamthaftung aller EU-Staaten im Jahr 2058 erfolgen? Gute Fragen, bislang hat der frühere CSU-Politiker keine Antwort erhalten.

Zudem ging es in Brüssel um EU-Hilfen für die Türkei und deren islamistischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der nicht nur mit der „LGBTQIA+“-Community auf Kriegsfuß steht. 3,7 Millionen Syrer, bis vor hundert Jahren Bürger des gemeinsamen Osmanischen Reiches, leben seit zehn Jahren in der Türkei und sind dort weitgehend integriert. Doch ist die EU durch ihren fehlenden Grenzschutz weiter erpreßbar. Nicht nur Erdoğan, sondern auch König Mohammed VI. von Marokko und der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko spielen die „Asylkarte“. So erhält die Türkei bis 2024 weitere 3,5 Milliarden für die Integration von Alt-Flüchtlingen und für das nie gehaltene Versprechen, sie und andere Transit-Illegale von Afghanistan bis Somalia nicht auf die griechischen Inseln und an die EU-Landgrenze zu schicken. Und über eine Erweiterung der Zollunion EU-Türkei soll ernsthaft verhandelt werden.

Europäischer Rat am 24./25. Juni 2021:  onsilium.europa.eu